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Wir schaffen eine inklusivere Gesellschaft

Mit dem Bundesteilhabegesetz machen wir einen entscheidenden Schritt in Richtung einer inklusiven Gesellschaft. Im Deutschen Bundestag fand heute die abschließende 2. und 3. Lesung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) statt. Auch hier gilt das Strucksche Gesetz: "Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist". Nach zahlreichen Gesprächen und Beratungen mit VertreterInnen der Zivilgesellschaft und in den Arbeitsgruppen und Ausschüssen verabschiedeten die ParlamentarierInnen heute im Plenum das Gesetz.

Wie intensiv diese Gespräche und Beratungen gewesen sind, zeigen die über siebzig Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG, Drucksache 18/9522).

Am 30. November 2016 wurde der geänderte Gesetzentwurf im federführenden Ausschuss Arbeit und Soziales als auch in den mitberatenden Ausschüssen beschlossen. Hinzukommen noch für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen viele relevante Veränderungen im Pflegestärkungsgesetz (PSG) III, welches ebenfalls am 1. Dezember 2016 verabschiedet wurde.

Viele wichtige Vorschläge und Forderungen von Verbänden und Selbsthilfeorganisationen sind dadurch nachweislich in das Gesetz eingeflossen. Dafür haben hunderttausende Menschen in den letzten Monaten gekämpft, haben Unterschriften gesammelt, haben mit zahlreichen Aktionen auf der Straße demonstriert. Die positiven Veränderungen, für die wir Abgeordnete uns stark gemacht haben, werden von vielen Verbänden und Selbsthilfeorganisationen anerkannt und begrüßt. Das BTHG ist somit Ausdruck eines lebendigen Dialogs zwischen Zivilgesellschaft und Politik auf allen föderalen Ebenen.

Das Bundesteilhabegesetz läutet einen Systemwechsel ein: Wir lösen die heutige Eingliederungshilfe aus dem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe und überführen sie in das Neunte Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX). Dadurch werten wir das SGB IX zu einem neuen Leistungsgesetz auf. Damit sind entscheidende Verbesserungen für die heute knapp 700 000 Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen, verbunden.

Überblick über einzelne Neuregelungen

Gleichrang zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung bleibt erhalten

Ein großer Streitpunkt im Vorfeld war die Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung. Für mich als Pflegepolitikerin und Berichterstatterin für die Soziale Pflegeversicherung lag hier eine besondere Herausforderung. Das Ergebnis: Der Vorrang von Pflegedienstleistungen gegenüber Leistungen der Eingliederungshilfe wurde aus dem Gesetz herausgenommen. Es bleibt bei der jetzigen Regelung der Gleichrangigkeit beider Leistungen. Damit räumen wir die große Sorge vieler aus, durch das neue Gesetz komme es zu einem Verlust von Teilhabeleistungen gemäß der Eingliederungshilfe. Das ist ein wichtiger Erfolg für Menschen mit Behinderung!

Weitere Klarheit haben wir geschaffen im Hinblick auf das Verhältnis Pflegeversicherung und der im SGB XII geregelten bedarfsorientierten Sozialleistung Hilfe zur Pflege für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen, die ihren notwendigen Pflegeaufwand nicht aus eigenen Mitteln sicherstellen können. Der Gleichrang beider Leistungen gilt auch in der Sozialhilfe. Mit der Übernahme der vom Bundesrat zum Verhältnis von Leistungen der Eingliederungshilfe zu Leistungen der Hilfe zur Pflege vorgeschlagenen Unterscheidung auf der Basis der Regelaltersgrenze - Lebenslagenmodell - wird sichergestellt, dass Menschen, die während des Alters der Erwerbstätigkeit schon behindert sind, auch weiterhin Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. Diese „Leistungen aus einer Hand“ umfassen dann auch die für sie jeweils notwendigen Pflegedienstleistungen. Bei Menschen, die erstmals nach Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben, wird dieser von der Hilfe zur Pflege umfasst wird.

Zugang zur Eingliederungshilfe - zum „leistungsberechtigten Personenkreis“

Die von vielen sehr kritisierte 5-aus-9-Regelung wird gestrichen. Die jetzigen Zugangsregelungen bleiben bis zum Jahr 2023 in Kraft und werden erst nach einer wissenschaftlichen Untersuchung und Erprobung neu gefasst. Eine Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises der Eingliederungshilfe soll im Lichte der UN-Behindertenkonvention und in Orientierung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) erfolgen. Der bisherige leistungsberechtigte Personenkreis der Eingliederungshilfe soll nicht verändert werden. Da gerade auch diese Punkte im Vorfeld zu erheblicher Verunsicherung bei Verbänden und Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderung geführt hat, wird mit dem heute verabschiedeten Gesetz definitiv klargestellt, dass der Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe nicht eingeschränkt wird.

Mehr vom Einkommen behalten

Erwerbstätige Leistungsbeziehende können künftig mehr von ihrem Einkommen und Vermögen behalten. Ab 2017 werden die Freibeträge für Erwerbseinkommen um bis zu 260 Euro monatlich erhöht. Die Vermögensfreigrenze steigt um 25.000 Euro auf 27.600 Euro. Bis 2020 wird die Freigrenze für Barvermögen auf rund 50.000 Euro angehoben werden. EhegattInnen und LebenspartnerInnen werden dann künftig weder mit ihrem Einkommen noch ihrem Vermögen herangezogen. Damit wird das faktische Heiratsverbot für viele Menschen mit Behinderungen aufgehoben. Diese Verbesserungen gelten für erwerbstätige Menschen mit Behinderungen auch beim gleichzeitigen Bezug von Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege. Auch Beschäftigten in einer Werkstatt für behinderte Menschen wird künftig ein geringerer Teil ihres Arbeitsentgeltes auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angerechnet. Über eine Verordnung zum SGB XII - Sozialhilfe – soll zudem geregelt werden, dass der Vermögensfreibetrag von LeistungsbezieherInnen des SGB XII von 2.600 auf 5.000 Euro angehoben wird. Davon sollen Menschen mit Behinderungen profitieren, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können. Grundsätzlich gilt diese Regelung jedoch für alle SGB XII-LeistungsbezieherInnen.

Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts

Das Wunsch- und Wahlrecht wird gegenüber dem Gesetzentwurf weiter gestärkt. Selbstbestimmtes Wohnen ist eine zentrale Voraussetzung für Teilhabe. Wünsche zur Wohnform und damit verbundene Assistenzleistungen im Bereich der persönlichen Lebensgestaltung werden besser berücksichtigt. Im Bereich der persönlichen Assistenz wird es keine „Poolen“ von Leistungen geben, wenn davon die ganz persönliche Lebensführung innerhalb der Wohnung betroffen ist. Ambulantes Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen hat Vorrang, wenn die Betroffene dies wünschen.

Drohender Behinderung entgegenwirken

Die Träger von Rehabilitationsmaßnahmen, wie die Bundesagentur für Arbeit oder die gesetzliche Rentenversicherung, sollen verpflichtet werden, drohende Behinderungen frühzeitig zu erkennen und gezielte Prävention zu ermöglichen. Ziel ist, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten. Um das zu unterstützen, will der Bund mit 200 Mio. Euro Modellvorhaben mit den Jobcentern und der gesetzlichen Rentenversicherung befristet auf fünf Jahre finanziell fördern. Dabei wird geprüft, mit welchen Maßnahmen einer drohenden Behinderung entgegengewirkt werden kann.

Leistungen wie aus einer Hand

Künftig soll ein einziger Reha-Antrag ausreichen, um ein umfassendes Prüf- und Entscheidungsverfahren zu starten, auch wenn Sozialamt, Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit, Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung für unterschiedliche Leistungen zuständig bleiben. Dank dieses Teilhabeverfahrens wird es nicht mehr nötig sein, sich mit verschiedenen Behörden auseinandersetzen zu müssen, denn es wird Hilfen „wie aus einer Hand“ geben.

Bessere und unabhängige Beratung

Eine trägerübergreifende und unabhängige Teilhabeberatung soll die Rechte der Betroffenen stärken. Anwendung findet auch die „Peer-Counseling-Methode“, d.h. es findet auch eine Beratung von Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Behinderungen statt. Das Beratungsangebot soll auf bestehenden Strukturen aufbauen. Der Bund wird künftig rund 60 Millionen Euro in eine unabhängige Beratung investieren, damit Betroffene und ihre Familien gut informiert und ausreichend unterstützt werden.

Mehr Teilhabe durch Arbeit

Menschen mit Behinderungen sollen selbst entscheiden, ob sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), bei einem anderen Leistungsanbieter oder auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten wollen. Sie bringen den ArbeitgeberInnen auch was mit: Dank des „Budget für Arbeit“ erhalten die ArbeitgeberInnen auf dem ersten Arbeitsmarkt bei einer wesentlichen Beschäftigung einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 75 Prozent ortüblichen Lohnes. Übernommen werden auch die Kosten für die notwendige Anleitung und Begleitung an der Arbeitsstelle. Dafür werden 100 Mio. Euro bereitgestellt. Wichtig ist auch, dass die Menschen ein Rückkehrrecht in die Werkstätten haben. Wer wieder zurück in die Werkstatt möchte, verliert nicht die rentenrechtliche Absicherung. Das Arbeitsförderungsgeld für die rund 300 000 Beschäftigten in Werkstätten wird auf künftig 52 Euro pro Monat verdoppelt.

Mehr Mitbestimmungs- und Vertretungsrechte

Im Arbeitsumfeld werden die Mitbestimmungs- und Vertretungsrechte für Schwerbehindertenvertretungen und Werkstatträte, zum Beispiel bei den Entlohnungsgrundsätzen, gestärkt. Die Ansprüche auf Fortbildungen und Freistellungen werden ausgebaut. Ab Herbst 2017 können in Wohneinrichtungen und WfbW Frauenbeauftragte gewählt werden um geschlechtsspezifischer Diskriminierung besser entgegentreten zu können.

Das Bundesteilhabegesetz im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen

Im Entschließungsantrag „Das BTHG im Lichte der UN-BRK umsetzen - Einführung des neuen Leistungsrechtes sorgfältig vorbereiten - Vermögensschonbetrag in der Sozialhilfe anheben“ geben wir ParlamentarierInnen der jetzigen und auch der nächsten Bundesregierung einige Hausaufgaben auf. Das betrifft:

  • die modellhafte Erprobung zentraler Neuregelungen in der Eingliederungshilfe,
  • die wissenschaftliche Untersuchung der Neuregelung zum leistungsberechtigten Personenkreis,
  • die finanziellen Auswirkungen auf Länder und Gemeinden,
  • die Leistungen zur Teilhabe an Bildung,
  • die Stärkung des betrieblichen Eingliederungsmanagements,
  • die Durchführung von Modellvorhaben zur Stärkung der Rehabilitation,
  • die Erhöhung des Vermögensschonbetrags in der Sozialhilfe

So sollen die zentralen Neuregelungen in der Eingliederungshilfe modellhaft erprobt und wissenschaftlich evaluiert werden. In dieser Modellphase sollen in jedem Bundesland „Modellträger der Eingliederungshilfe“ ausgewählt werden, die diese neuen Regelungen anwenden. Dabei sollen die Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderung beteiligt werden. Bis Ende 2018 soll der erste Bericht dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat vorgelegt werden.

Auch die Neuregelung zum leistungsberechtigten Personenkreis soll wissenschaftlich untersucht werden. Das Ergebnis soll bis zum 30. Juni 2018 dem Bundestag als Bericht vorgelegt werden. Erst danach soll Weiteres entschieden werden.

Nach der Reform ist vor der Reform

Mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes geht ein langer Prozess der Beteiligung und des erfolgreichen Kampfes von Menschen mit Behinderung und ihren Verbänden zu Ende. Nun beginnt eine Phase der Umsetzung, der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation für alle Beteiligten. Auch hier sind die Verbände und Selbsthilfeorganisationen aufgerufen, sich aktiv bei der Umsetzung und Auseinandersetzung mit den Evaluationen einzubringen. Nach der Reform ist vor der Reform. Selbst harte KritikerInnen müssen konzedieren, dass ein Verzicht auf das Bundesteilhabegesetz die UN-BRK keinen Millimeter weit umsetzt, sondern die Debatte um Jahre zurückwerfen würde.