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Pflegestärkungsgesetz II - Was lange währt, wird wirklich gut?

Verbessert das Pflegestärkungsgesetz II (PSG II) tatsächlich die Situation pflegebedürftiger Menschen? Werden im neuen Begutachtungsverfahren zur Feststellung ihres Pflegegrades ihre somatischen, kognitiven und/oder psychischen Einschränkungen tatsächlich umfassend berücksichtigt. Diese Fragen standen im Mittelpunkt der 2. Seniorenpolitischen Fachtagung am 8. Oktober 2015 im dbb forum berlin. Unter dem Motto „Pflegestärkungsgesetz II - Was lange währt, wird wirklich gut?“ diskutierten ExpertInnen aus Politik, Wissenschaft und Praxis die neuen Regelungen des vorliegenden Gesetzesentwurfes.

Es sei die Pflicht eines Sozialstaates, Lebensrisiken abzusichern, betonte der dbb-Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt in seinem Grußwort an die rund 100 TeilnehmerInnen. Pflege habe auf Grund des demografischen Wandels und der daraus resultierenden Herausforderungen eine hohe Bedeutung. Herausgefordert seien auch die Gewerkschaften, die unter anderem mittels Tarifverträgen dafür Sorge zu tragen hätten, dass sowohl die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als auch die von Beruf und Pflege ermöglicht werde. Das PSG II komme den Pflegebedürftigen und den pflegenden Angehörigen besonders zu Gute. Gute Pflege und mehr Gerechtigkeit beim Leistungszugang habe ihren Preis, der durch die geplante Beitragssatzerhöhung zur Pflegeversicherung ab 2017 um 0,2 Prozentpunkte aufgefangen werden soll. Ob dieser Betrag ausreiche, wird von ihm in Zweifel gezogen.

Auch der Vorsitzende der dbb-Bundesseniorenvertretung Wolfgang Speck erklärte, dass die Betroffenen eine angemessene Bewertung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen erwarteten. Der erste Schritt sei die zutreffende Feststellung einer Pflegestufe - zukünftig eines Pflegegrades. „Das Letzte, was eine pflegebedürftige Person und ihre Angehörigen gebrauchen können, ist ein Ergebnis, das zur Führung eines Widerspruch- oder gar Klageverfahrens zwingt“, sagte Speck.

Bessere Leistungen für fast alle Betroffenen

Dr. Martin Schölkopf, Leiter der Unterabteilung Pflegesicherung im Bundesministerium für Gesundheit, erläuterte die Herausforderungen, denen sich die Bundesregierung im Zuge der Reform der Pflegeversicherung stellen müsse. Es gehe um mehr als nur eine Gewährung von Sozialleistungen. Für eine zufriedenstellende Pflege müssten alle Beteiligten ins Boot geholt werden. Die schon im Pflegeneuausrichtungsgesetz verankerten Leistungsverbesserungen seien für die derzeit rund 1,5 Millionen an Demenz Erkrankten ein richtiger Schritt gewesen. Deren Anzahl wird Schätzungen zufolge bis 2030 auf 2,3 Millionen ansteigen. Daher sei es wichtig, familiale Pflegekapazitäten zu erhalten, um den herrschenden Fachkräftemangel auszugleichen. Auch müssten Schnittstellen optimiert und ein flächendeckendes Versorgungssystem gerade auch für die ländlichen Räume geschaffen werden.

Mit der Reform der Pflegeberufe (generalistische Pflegeausbildung) sollen die Ausbildungen für die bis dato getrennten Ausbildungen für die Altenpflege und die (Kinder-)Gesundheits- und Krankenpflege vereint und verbessert werden. Mit der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege 2012 - 2015 habe sich der Bund zu zahlreichen Maßnahmen verpflichtet, die der Altenpflege dienen. Allein durch die Finanzierung des dritten Ausbildungsjahres für UmschülerInnen habe es einen 14-prozentigen Anstieg der Ausbildungszahlen, die höchste Steigerung bei den Gesundheitsberufen, gegeben. Für den Pflegeexperten Schölkopf bringt das zum 1. Januar 2016 in Kraft tretende PSG II für fast alle Betroffenen Vorteile: „Es gibt Besitzstandsschutz. Jede pflegebedürftige schon jetzt eingestufte Person werde - ohne sich neu begutachten lassen zu müssen - entweder gleichhohe oder höhere Leistungen beziehen.“. Das PSG II sei aber noch nicht das letzte Pflegestärkungsgesetz. In einem weiteren Gesetz sollen die Kommunen, auf deren Schultern die Hauptlast bei der Sicherstellung einer Pflegeinfrastruktur liegt, gestärkt werden. Es gilt die Akteure in diesem Bereich besser zu vernetzen.

Die Chancen und Risiken der Reform der Pflegeversicherung

Wenn wir über Pflege reden, müsse klar sein, dass wir auch über uns selbst reden, erklärte Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Jeder zweite Mann und jede dritte Frau werde zum Ende des Lebens pflegebedürftig sein. Pflegebedürftigkeit sei also ein allgemeines Lebensrisiko. Das Gesetz beruhe auf den Empfehlungen von zwei ExpertInnenbeiräten, die in den vergangenen elf Jahren den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff entwickelt hätten. Damit werde endlich ein Geburtsfehler der derzeitigen Gesetzgebung behoben. Rund 500.000 Menschen mehr hätten nun einen Anspruch auf Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung. Für den Großteil der schon Pflegebedürftigen würden deutliche Verbesserungen zukommen. Obgleich die größte Reform der Pflegeversicherung seit ihrer Gründung 1995 als Erfolg zu bewerten sei, sei es auch Fakt, dass nicht alle „Heilserwartungen“ erfüllt werden würden. „Es bleiben Großbaustellen bei der Finanzierung, bei den Personalressourcen und bei den Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft.“

Abschied von der Minutenpflege

Der Analyse der gesetzlichen Neuregelungen folgten zwei Praxisberichte: Dr. Andrea Kimmel, Fachberaterin Team Pflege des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS) und Dr. Renate Richter, Leiterin der Abteilung Sozialmedizin der für Privatversicherte zuständigen MEDICPROOF GmbH, erläuterten, wie das neue Begutachtungsverfahren zur Erteilung eines Pflegegrades funktioniert. Neu, so Kimmel, sei die veränderte Blickrichtung. Die wichtigste Neuerung ist, dass nun nicht mehr von dem Pflegepersonal und deren Zeitaufwand ausgegangen wird, sondern der Grad der Selbständigkeit und die individuellen Fähigkeiten der pflegebedürftigen Menschen im Mittelpunkt stehen. Die konkrete Frage, welche zur Bestimmung des neuen Pflegegrades künftig gestellt wird, ist folgende: „Inwieweit ist den Pflegebedürftigen eigenständiges Leben (noch) möglich, oder bis zu welchem Grad ist es für sie eingeschränkt?“.

Erarbeitet wurden acht Module, die von der Beurteilung der motorischen Fähigkeiten ausgehen und bis zur Bewertung der Kommunikations- und Kontaktfähigkeit reichen. Am Ende stehe eine Bewertung, die von 0 (selbstständig) bis 3 (überwiegend unselbstständig) reiche. „Der Perspektivwechsel ist eine große Herausforderung“, sagte Kimmel. Damit das neue Verfahren ab dem Inkrafttreten der gesetzlichen Vorgaben zum 1. Januar 2016 angewendet werden könne, würden alle GutachterInnen anhand der neu zu formulierenden Beurteilungsrichtlinien geschult.

Die Neudefinition des Begriffs der Pflegebedürftigkeit sei ressourcenorientierter als die alten Regelungen, bekräftigte Dr. Renate Richter. Sie erwarte eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz der neuen Pflegebewertung, da diese nicht mehr den Zeitaufwand, die so genannte Minutenpflege, in den Mittelpunkt stellt. Das schaffe ein für alle Beteiligten würdigeres Umfeld. Richter empfahl den Angehörigen, sich unbedingt auf die Pflegebegutachtung vorzubereiten und auch dabei zu sein. Das würde sowohl den Pflegenden als auch den GutachterInnen helfen.

Finanzierung langfristig sicherstellen

Abschließend diskutierten die BerichterstatterInnen für die Soziale Pflegeversicherung der Koalitionsfraktionen unter der Moderation von Katja Weber (Radio eins/rbb) mit dem stellvertretenden Vorsitzender der dbb Bundesseniorenvertretung, Klaus-Dieter Schulze, darüber, ob der mit den Pflegestärkungsgesetzen eingeschlagene Weg den Bedürfnissen der Betroffenen entspricht. Das PSG II ist der richtige Weg. Ich bin auch froh, dass wir Ungerechtigkeiten im Pflegebereich abbauen werden. Laut Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums ist die Finanzierung der neuen Regelungen zur Bewertungssystematik, zum Bestandsschutz, zu den Leistungsausweitungen und zu den einheitlichen Eigenanteilen bis 2022 gesichert. Gerade der einheitliche Eigenanteil ist ein riesiger sozialpolitischer Erfolg. Niemand muss nun Angst haben, dass der Eigenanteil aufgrund zunehmender Pflegebedürftigkeit ansteigt. Gedacht ist an einen einheitlichen Betrag von 580 Euro. Bisher ist der Eigenanteil bei einer stationären Pflegeeinrichtung von rund 460 Euro auf 900 Euro angestiegen.

Pflege ist ein Thema, mit welchem wir alle im Laufe des Lebens in Berührung kommen, deswegen ist eine gerechte Struktur für alle wichtig. Darum kann es auch nicht sein, dass Pflege zukünftig noch stärker davon abhängig ist, welchen soziokulturellen Hintergrund die betreffende Person hat und sich eine private Zusatzvorsorge leisten kann oder nicht.

Schulze erhob jedoch die Forderung nach einer besseren Absicherung der pflegenden Angehörigen in der Renten- und Sozialversicherung besser abgesichert werden. Unerlässlich sei es auch, Pflegekräfte besser zu bezahlen und die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen.

In ihrem Schlusswort betonte die 2. Vorsitzende der Seniorenvertretung Uta Kramer-Schröder, dass das Pflegestärkungsgesetz II große Hoffnungen wecke und Pflegebedürftigen wie pflegenden Angehörigen neue Möglichkeiten eröffne. Nun bleibe abzuwarten, ob angesichts der nur bis 2022 gesicherten Finanzierung und des Fachkräftemangels in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen auch alle Erwartungen erfüllt würden.

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Präsentation Andrea Kimmel.pdf1.31 MB