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Umbrüche in der arabischen Welt zur Diskussion

Über die Neuen Medien verbreitete sich die Nachricht von der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 rasant. Dieser Tod aus Protest war in Tunesien der Funke für die Jasminrevolution. Diese war wiederum das Startsignal für die am 5. Januar 2011 beginnenden Unruhen in Algerien, die Proteste in Ägypten ab dem 25. Januar und weitere Aufstände in Libyen, Syrien und vielen anderen Ländern der arabischen Welt. Insbesondere junge Menschen - darunter viele Frauen - forderten und fordern den Herrschaftswechsel, kämpften und kämpfen für Demokratie und für bessere Lebensperspektiven. „Wir dürfen nicht nur bewundernd danebenstehen sondern müssen aktiv dazu beitragen, dass sich dieser Einsatz für Freiheit und die damit verbundenen Hoffnungen auch erfüllen“, fordert Mechthild Rawert, Bundestagsabgeordnete für Tempelhof-Schöneberg.

Zur Diskussionsveranstaltung „Die arabische Welt im Umbruch - Zwischen Euphorie und Ernüchterung“ am 08. Februar kamen über 400 Gäste, darunter viele Botschafter, WissenschaflerInnen und Abgeordnete. Sie alle wollten zusammen mit Beteiligten der Umbrüche in Tunesien und Ägypten eine erste Zwischenblanz hinsichtlich der Fortschritte beim Demokratieaufbau, beim Umgang mit dem politischem Islam ziehen. Dabei ging es auch um die Herausforderung, inwiefern wir Tunesien, Ägypten und die anderen arabischen Länder, in denen der Wandel noch im Gange ist, unterstützen können.

Dr. Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, eröffnete das hochkarätige Panel: Dr. Mustafa Ben Jaffar, Vorsitzender der Verfassungsgebenden Versammlung Tunesiens, Frau Prof. Dr. Amal Abou Al Fadl von der Universität Kairo, Loay Mudhoon, Redaktionsleiter von Qantara.de, Prof. Dr. Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Günter Gloser, MdB und Vorsitzender des Gesprächskreises Nahost und Moderatorin Dr. Bettina Marx vom Hörfunk der Deutschen Welle.

Euphorie und Ernüchterung in Tunesien
Ben Jaffar, auch Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Tunesiens, schilderte mit eindringlichen Worten die Lage der Menschen in seinem Land nach dem Sturz des Diktators Ben Ali, der nach über 23 Regierungsjahren am 14. Januar 2011 fluchtartig das Land verlies. Der Volksaufstand sei eine vor allem von jungen Menschen getragene „plötzliche Revolution“ für bessere Lebensperspektiven, für politische Würde gewesen, die dann von Gewerkschaften, Künstlern und der breiten Bevölkerung mitgetragen wurde. Ben Jaffar verhehlte nicht, dass Wirtschaft und Gesellschaft erst einmal einen Einbruch erlebten. Zwar sei dies normal, wenn sich Strukturen ändern und neue Rollen erst gefunden werden müssten. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit sei aber dringendst geboten für ein friedliches Umfeld und eine stabile Demokratie. Notwendig sei auch die Hilfe und Anerkennung aus Europa.

"Wir brauchen die Unterstützung unserer Freunde"
Ben Jaffar appellierte mit energischen Worten an Europa. Das tunesische Volk, viele Völker im arabischen Raum wollten die Freiheit. „Wir haben keine Angst mehr“ - diese Botschaft sollten wir in die Welt tragen. Auf die Frage nach den radikalen Kräften, die sich in einigen Revolutionsländern auszubreiten drohten, antwortete er: „Es ist ein falscher Denkansatz, zu glauben, ohne autokratische Herrscher entstehe Extremismus. Nein, die Diktatoren haben den Extremismus erst herbeigeführt. Sie haben den Weg dafür bereitet“. Doch die Gesellschaften würden sich von selbst verändern; für Extremisten bliebe dann kein Platz mehr. „Es gibt Hoffnung.“

Gemeinsam für die Demokratie arbeiten
Frank-Walter Steinmeier stellte fest, dass viele lange Zeit nicht daran geglaubt hätten, dass es zu derartigen Revolutionen im arabischen Raum kommen könne. Er habe bei früheren Reisen aber auch vor Ort keine institutionalisierte Opposition getroffen, die das habe kommen sehen. Es dürfe nicht dazu kommen, dass sich die Menschen dort fragten, was bringt uns die Demokratie eigentlich? Eine tatkräftige Hilfe für unsere europäische Nachbarschaft müsse erfolgen. Scharf kritisierte er die Regierung von Syrien und forderte einen sofortigen Stopp des Blutvergießens.

Frau Amal Abou Al Fadl bejaht die Aussage von Bettina Marx, dass ein Gradmesser der Demokratie häufig die Lage der Frauen sei. Sie verwies darauf, dass die Frauen seit dem ersten Tag der Revolution aktiv an der Seite der Männer zu Gunsten der Demokratie gekämpft hätten. Obwohl jetzt weniger Frauen im Parlament vertreten seien als zuvor, sei das Gefühl der Ägypterinnen, Frauen seien Menschen mit gleichen Rechten, auch mit Gewalt nicht mehr zurückzuschlagen. Noch sei Ägypten allerdings nicht so weit wie Tunesien. Es gäbe noch immer Angst beim Thema Frauenrechte. Zwar seien im Zuge der Revolution Tabus gefallen - etwa der Jungfräulichkeitsnachweis - doch bei den gesetzlichen Regelungen, z.B. bei den Personenstandsrechten, bei den Familiengesetzen, gäbe es hinsichtlich der individuellen Persönlichkeitsrechten von Frauen noch großen Nachholbedarf.

Für Loay Mudhoon ist der Einzug islamischer Parteien in die Parlamente nicht verwunderlich, schließlich seien diese in vielen arabischen Ländern Volksparteien. Viele Ägypter seien religiös und gerade die einfachen Leute möchten Frömmigkeit im Parlament. Eine Überraschung sei es für ihn gewesen, dass die ultra-konservativen Salafisten es über ihren politischen Arm, die Nour Partei, zur zweitstärken Partei im ägyptischen Parlament gebracht hätte. Besonders gut habe diese in den Armenvierteln abgeschnitten. Für Loay Mudhoon kommt es darauf an, was die einzelnen Parteien nun „im Wettbewerb untereinander“ mit ihrer gewonnen Macht tun würden.

Unterstützung aus Deutschland
Günter Gloser warb für wirtschaftliche Hilfen für den arabischen Raum. „Diese Umbruchphase dauert eben, aber wenn wir Unterstützung leisten, haben alle etwas davon“. Seinen darüber hinausgehenden Vorschlag nach Bildungspartnerschaften für junge Menschen, unterstütze ich. Allerdings müssen wir dafür auch neue gesetzliche Regelungen schaffen, damit es eine win-win-Situation für alle wird. Es darf meiner Meinung nach aber nicht nur um die Bekämpfung des hiesigen Fachkräftemangels gehen.

Volker Perthes verwies darauf, dass sich viele, die sich früher gefragt hätten, was tun mit den Diktaturen, nun fragten, was tun mit den islamischen Parteien? Er riet, dass nicht mit Angst auf eine „konservative Demokratie“, eine religiös bekennende Demokratie reagiert werde solle. Es sei wichtig, mit Freude auf diese gesellschaftspolitische Entwicklung zu reagieren, mit Freude voranzugehen. Wenn ein Druckkessel explodiere, werde natürlich alles freigesetzt. Hierzu gehörten auch Extremisten. Wichtig sei es die Institutionen der Demokratie zu stabilisieren. Diese Entwicklung zu einer pluralistischen Gesellschaft solle viel positiver gesehen werden. „Wir müssen Vorschussvertrauen geben. Wir müssen auf Politiker zugehen, die wir noch nicht kennen und ihnen eine Chance geben.“

Vertrauensvorschuss für die Demokratie
Ich fand die Veranstaltung sehr beeindruckend. Das Plädoyer, den Ländern in der arabischen Welt einen Vertrauensvorschuss zu geben, finde ich richtig. Wir haben in Deutschland nach dem Nationalsozialismus auch einen Vorschuss an Vertrauen bekommen. Einen Vorschuss dafür, dass wir Demokratie lernen können und in der Lage sind, eine solche aufzubauen. Es kommt darauf an, Demokratie, Pluralismus, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit zu wollen. Dieser Wille ist angesichts der vielfältigen Revolutionen aber unbestreitbar vorhanden. Der Prozess hin zu einer Demokratie dauert lange, wohl eher Jahrzehnte als Jahre. Wir Menschen in Deutschland wissen dieses aus eigener Erfahrung. Islam und Demokratie ist meiner Meinung kein automatischer Gegensatz. Die arabischen Frauen und Männer, insbesondere die jungen Menschen, wollen auf keinen Fall länger nur passive Untertanen, sondern wollen so wie wir aktive Bürgerinnen und Bürger sein.