Hauptmenü

„Sterben in Würde“ - Was ist das für mich?

Fraktion vor Ort-Veranstaltung am 22. September 2015 zum Thema „Sterben in Würde - ethische und rechtliche Aspekte von Sterbebegleitung und Sterbehilfe“

Das Sterben, mein Sterben - ein Thema, an das sich nur wenige herantrauen. Die damit zusammenhängenden Fragen sind unangenehm, bedrängend, vor allem aber ganz persönlich. Noch weiter in den Bereich des Tabus reicht das Thema Suizid: Der Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Bei schwerkranken Menschen ist es vor allem die Angst vor unerträglichen Schmerzen, vor Kontroll- und sozialem Bedeutungsverlust, vor dem Verlust an Autonomie, die diesen Wunsch auslöst. Aber auch existentielle Ängste wie Einsamkeit und Armut sind häufige Gründe. Das Leben wird als nicht mehr würdig angesehen. Das Leiden ist so groß, dass der Tod die bessere Alternative zu sein scheint.

Soll die organisierte Sterbehilfe verboten werden? Oder sollen ÄrztInnen klarere Leitlinien erhalten? Wie will ich sterben und wer sollte mir helfen dürfen? Wie also soll ein neues Sterbehilfegesetz aussehen?

Diese sehr persönliche Diskussion führte ich am 22. September 2015 auf der Fraktion vor Ort-Veranstaltung „Sterben in Würde - ethische und rechtliche Aspekte von Sterbebegleitung und Sterbehilfe“ in Berlin-Tempelhof mit interessierten BürgerInnen. Dr. Eva Högl,  Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, führte in die dem Deutschen Bundestag vier zur Abstimmung vorliegende Gesetzesentwürfe ein. Dr. Astrid Giebel, die im Vorstandsbüro Diakonie Deutschland des Evangelischen Bundesverbands tätig ist, beleuchtete wie Suizidprävention durch Seelsorge und Hospiz- und Palliativmedizin geleistet wird. Dr. med. Günther Jonitz sprach als Präsident der Ärztekammer Berlin die Situation der ÄrztInnen im Zusammenhang mit Suizidbeihilfe an. Die Diskussion war voller Leben: Ängste, Bedenken und Wünsche wurden geäußert, ein breites Meinungsbild.

Gehört das Sterben zum Leben? Gehört es zur Freiheit des Menschen, dem eigenen Leben selbst ein Ende zu setzen?

Am Ende des Lebens geht es um grundsätzliche Fragen des menschlichen Selbstverständnisses. Deshalb hat sich auch der Deutsche Ethikrat mit dem Thema Sterbebegleitung/Sterbehilfe  beschäftigt. Die moderne Medizin kann das Leben deutlich verlängern, dadurch wächst aber das Risiko von langem Siechtum und quälendem Sterben. Dies fordert die Gesellschaft heraus, sich mit den Umständen des Sterbens immer wieder auseinanderzusetzen, die Möglichkeiten der menschlichen Sterbebegleitung und der palliativen Versorgung auszuschöpfen, aber auch Themen wie Suizid, Beihilfe zum Suizid und Sterbehilfe als letzten Ausweg aus einer für den Betroffenen unerträglichen Leidenssituation nicht zu übergehen. Seit nun mehr als zwei Jahren ist das Thema vom Parlament aus der tabuisierten Ecke herausgeholt worden und wird sowohl hier als auch gesellschaftlich breit diskutiert.

Am 23. September fand eine vierstündige Anhörung mit 12 geladenen Sachverständigen zum Thema statt.

Im Fokus bei den zahlreichen Diskussionen steht die Frage: Wie gehen wir mit der assistierten Suizidhilfe um? Die aktive Sterbehilfe, das Töten auf Verlangen, ist in Deutschland gesetzlich verboten. Die passive Sterbehilfe hingegen nicht. So dürfen Medikamente, welche zum Tode führen, bereitgestellt werden, die der Mensch selbst einnimmt. Es dürfen Therapien ausgesetzt werden. Diese Regelung funktioniert in der Praxis - und sollte beibehalten werden. Es gibt auch eine organisierte Sterbehilfe. Hier ist zu klären, wie damit umgehen?

Vier Gesetzesvorschläge - vier Schwerpunkte

Im Deutschen Bundestag liegen derzeit vier Gesetzesentwürfe aus der Mitte des Parlaments vor. Die Entwürfe wurden nicht von der Regierung sondern von PolitikerInnen verschiedener Fraktionen erstellt. Da es sich um ein ethisch kontroverses Thema handelt, ist auch die Fraktionsdisziplin ausgesetzt: Bei der Abstimmung im November werde ich also alleine meinem Gewissen folgen. Bei meiner Entscheidung helfen mir die Stimmen der BürgerInnen, die sich auf der Fraktion vor Ort-Veranstaltung vielstimmig geäußert haben.

Ein erster „Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ will die geschäftsmäßig organisierte Suizidbeihilfe unter Strafe stellen. Damit soll jede Form der wiederholten Suizidhilfe, sei sie profitorientiert oder nicht, unter Strafe gestellt werden.

Der zweite „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz)“ setzt den Schwerpunkt auf die Rechtssicherheit für Ärzte. Momentan gibt es in den verschiedenen Landesärztekammern verschiedene Berufsordnungen. Der Gesetzesentwurf sieht vor, genaue und bundeseinheitliche Voraussetzungen festzulegen, wann eine assistierte Suizidhilfe zum Tragen kommen kann. Unter anderem muss eine unheilbare, unmittelbar zum Tode führende Erkrankung vorliegen, eine umfassende ärztliche Beratung stattgefunden haben und keine psychische Krankheit vorliegen. Es sollen jedoch keine Verbote bzgl. organisierten Sterbehilfevereinen getroffen werden, da angenommen wird, dass eine konkrete und eindeutige Richtlinie für Ärzte diese überflüssig machen.

Gemäß des dritten „Entwurfes eines Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung“ bleibt die Hilfe bei der Selbsttötung erlaubt, auch für organisierte und nicht kommerzielle Sterbehilfe. Allerdings soll strafbar sein, Suizidhilfe für kommerzielle Zwecke anzubieten.

Der vierte „Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Teilnahme an der Selbsttötung“ möchte jegliche Hilfe beim Suizid unter Strafe stellen. Ich finde das gesetzlich problematisch, da Suizid kein Straftatbestand ist und somit Beihilfe dazu ebenfalls nicht.

Welche Rolle sollten die ÄrztInnen spielen?

Auf die ärztlichen Regelungen und das Berufsverständnis der ÄrztInnen ging Dr. med. Jonitz als Präsident der Berliner Ärztekammer ein. Geregelt sind die Rechte und Pflichten von ÄrztInnen in der sogenannten Berufsverordnung der jeweiligen Landesärztekammer. Auf Bundesebene haben sich vorerst die GegnerInnen des ärztlich assistierten Suizids durchgesetzt. Ärztekammer-Präsident Montgomery drückte beim Ärztetag 2011 ein striktes Verbot durch. Nach der seitdem gültigen Muster-Berufsordnung ist es ÄrztInnen nicht mehr erlaubt, „Hilfe zur Selbsttötung“ zu leisten. Dieses Verbot der passiven Sterbehilfe für ÄrztInnen haben aber tatsächlich nicht alle Landesärztekammern aufgenommen. Das Standesrecht ist damit strenger als das Strafgesetz, nach dem die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar ist.

ÄrztInnen üben ihren Beruf „nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus“. Es kommt letztendlich auf die persönliche Gewissensentscheidung der ÄrztInnen an. Es zielt wieder auf die Frage ab: Was ist Menschlichkeit und Würde? Dr. Jonitz wies darauf hin, dass es auch auf die PatientIn-ÄrztIn-Beziehung ankomme. In Gesprächen könne vermittelt werden, wie palliative Mittel am wirksamsten eingesetzt werden können. Die ÄrztIn-PatientIn-Beziehung kann eine sehr persönliche sein, die eine Grundlage für die Beantwortung der Frage „Was ist Würde für die individuelle Person?“ ermöglicht.

Intrinsischer Konflikt: Wo Autonomie und Menschenrecht sich gegenüber stehen

Bei der Frage nach der Sterbehilfe und dem „würdigen“ selbstbestimmten Sterben stehen sich zwei Grundrechte gegenüber: Autonomie/Selbstbestimmung mit dem Recht „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ steht im Kontrast zu dem Menschenrecht „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Dieser gesellschaftliche Grundkonflikt zog sich auch durch die Debatte der Fraktion vor Ort-Veranstaltung. Die Freiheit der Selbstbestimmung kam vor allem in der Argumentation eines Vertreters der AG Ärztliche Sterbehilfe zum Tragen: „Der Einzelne oder die Einzelne soll selbst entscheiden, was würdig für sie oder ihn bedeutet“. MitarbeiterInnen aus Pflegeheimen wiesen darauf hin, dass diese vertrauensvolle enge PatientInnen-ÄrztIn oder Pflegende oft nicht der Realität entspreche. So wurde die Sorge deutlich, dass auf den persönlichen Willen nicht ausreichend eingegangen wird. PatientInnenverordnungen würden nicht immer wirklich ernst genommen. Werde ich also doch in meiner Entscheidung über den selbst gewählten Tod beschnitten? Was ist Würde, wenn nicht Selbstbestimmung?

Um welche Ängste geht es?

Deutlich wurde in der Diskussion: Ängste vielfältiger Art befeuern den gesellschaftlichen Diskurs, so auch hier. Es lohnt sich zu fragen: Um welche Ängste geht es konkret? Die der Beraubung der Freiheit? Eine Sozialarbeiterin, die in der ambulanten Pflege tätig ist, sagte, von allen PatientInnen höre sie vor allem den Wunsch „Ich will nicht ins Heim“. Ängste der Versorgungsabhängigkeit und Kostenängste spielen hier eine entscheidende Rolle. Dr. Astrid Giebel weiß von vielen MitarbeiterInnen der Telefonseelsorge und aus der Palliativ- und Hospiz-Care Arbeit, dass vor allem der Satz „Ich will so nicht mehr leben“ häufig fällt. Seltener zu hören ist die Aussage „Ich will nicht mehr leben“. Die Angst vor nicht lebenswerten Umstände spielt hier eine Rolle: Darunter fallen auch Kontrollverlust, die Abhängigkeit von Maschinen und die Angst  vor unerträgliche Schmerzen. Vor diesem Hintergrund äußere sich oftmals ein Wunsch zum Suizid.

Dr. Giebel weist darauf hin, dass existentielle Fragen Menschen in ihrer letzten Lebensphase bedrängen: Lebens-, Identitäts- und Sinnkrisen in Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen, bei der häuslichen Pflege. Derzeit sind ÄrztInnen, Pflegende und TherapeutInnen wenig ausgebildet, um diese existentielle Kommunikation und seelischen Pflegebeistand zu leisten. Eine Möglichkeit, an der Wurzel zu beginnen. Sie stellt Modelle der Diakonie vor, wie beispielsweise die Telefonseelsorge. Dieses Problem und weitere Sichtweisen auf das Thema Sterbehilfe stellt Dr. Giebel in dem von ihr mitherausgegebenen Buch „Würde, Selbstbestimmung und Sterbekultur - Blinde Flecken der Sterbehilfedebatte“ vor.

Eine große Angst liegt in den möglichen Schmerzen. Dass diese unerträglich werden und so das Leben als unwürdig wahrgenommen wird. Der Angst vor einem leidvollen Sterben, aber auch der Ungewissheit und Schreckensbildern, vor denen sich viele fürchten, soll mit dem am 17. Juni diesen Jahres in erster Lesung in den Bundestag eingebrachten Hospiz- und Palliativgesetz begegnet werden. Es geht darum, Palliativversorgung und Hospizarbeit als Bestandteil der Regelversorgung im häuslichen und stationären Bereich auszugestalten. Immer dort, wo Menschen ihr Leben in Würde leben wollen. Auch hier hat die Diakonie Modelle entwickelt, um die Informationen über Palliativ- und Hospizversorgung zu verbreitern und flächendeckend zu nutzen. Zum Beispiel in der ambulanten Pflege, die von den meisten Pflegebedürftigen in Deutschland gelebt wird. In der Palliativmedizin wird auf die Ängste vor der Einsamkeit und den Schmerzen eingegangen. Erfahrungen aus Gesprächen in der Palliativmedizin zeigen, dass der Wunsch nach Suizid vor allem der Angst vor Qualen entspringt. Auch der sogenannte geäußerte „Wille“ zum Sterben ist erfahrungsgemäß nicht dauerhaft anhaltend. Auch möchten viele ihren Angehörigen nicht zur Last fallen, sowohl sozial als auch finanziell. Es gibt aber auch einen Druck, der aus der Angst entspringt, „der Gesellschaft zur Last zu fallen“. Hier wird deutlich: Die Debatte hat klare gesellschaftliche Wertedimensionen, die über die einfache „Freiheitsdebatte“ hinausgehen.

Organisierte Sterbehilfe, seelsorgerische Sterbebegleitung - ein Abbild der Werte in unserer Gesellschaft

Organisierte Sterbehilfe oder Sterbebegleitung - solche Modelle prägen unweigerlich das Bild des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen. BefürworterInnen der organisierten Sterbehilfe betonen die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit über das eigene „würdige Sterben“. „Death with Dignity“ „Sterben in Würde“ - so heißt das Gesetz zur assistierten Sterbehilfe in Oregon. Tödliche Substanzen können von ÄrztInnen für PatientInnen beschafft werden. Gleiches ist auch in der Schweiz möglich. In Belgien und den Niederlanden ist sogar die aktive Sterbehilfe erlaubt, also das Töten auf Verlangen. Diese Möglichkeiten werden auch genutzt: Die Tötung auf Verlangen ist in Belgien in den letzten 10 Jahren von 235 auf 1432 gestiegen. Und in Belgien hatten nur 40% der PatientInnen, die sich für die aktive Sterbehilfe entschieden hatten, Kontakt zu einem oder einer PalliativmedizinerIn. Andere Optionen der Sterbebegleitung wurden gar nicht in Anspruch genommen. Ich finde es problematisch, dass in den Niederlanden die aktive Sterbehilfe auch PatientInnen mit Depressionen oder Demenz zugänglich ist.

Die Sorgen hinter der organisierten Sterbehilfe sind hochpolitisch und für die ganze Gesellschaft relevant. Könnte die „Dienstleistung“ Suizidhilfe den Effekt einer gesellschaftlichen „Normalisierung“ erhalten? Würden sich Menschen mit Ängsten um ihre finanzielle Versorgung im Alter bei einem „Gewöhnungseffekt“ gedrängt fühlen, solche Angebote wahrzunehmen? Doch wird damit den Ängsten, die eigentlich dahinter stehen, wirkungsvoll entgegengetreten? Ich finde nein. Hier hilft nur eine umfassende „gute“ Gesellschaftspolitik.

Worauf konzentrieren wir uns in unserer Gesellschaft?

Die Diskussion über Ängste ist auch eine der Werte in unserer Gesellschaft. Wie gehen wir mit den Ängsten um? Welchen Wert schreiben wir sozialen Beziehungen zu? Wie sehen wir von Pflegebedürftigkeit betroffene Menschen? Was ist mit der existentielle Sterbehilfe? Palliativmedizin um Schmerzen zu begegnen?

Dieser Diskurs muss weitergehen. Denn nur so können wir uns der Frage annähern, wie wir unsere Gesellschaft sehen wollen, wie wir Freiheit der Entscheidung und Menschenwürde einordnen und wie wir politisch gestaltend einwirken wollen. Mit der Fraktion vor Ort-Veranstaltung habe ich viele Gedankenanstöße erhalten.