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„Ende gut, alles gut?!“- Fachveranstaltung des Bündnis für GUTE PFLEGE

Die Quintessenz der Fachtagung ist eindeutig: Der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist ein Paradigmenwechsel. Allem voran wird die Gerechtigkeitslücke zwischen somatischen, psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen von pflegebedürftigen Menschen geschlossen. Trotzdem ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff kein „All-Heilmittel“ und somit auch nicht das Ende der notwendigen Reformen in der Pflege.

Das 2012 gegründete „Bündnis für Gute Pflege“ lud am 20. Mai 2015 zur Fachveranstaltung „Ende gut, alles gut?! - Jetzt kommt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff“ nach Berlin ein. Im Zentrum der Veranstaltung stand die Vorstellung der Ergebnisse der beiden Erprobungsstudien zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff „Praktikabilitätsstudie zur Einführung des neuen Begutachtungsassessments (NBA) zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI sowie Evaluation des NBA - Erfassung von Versorgungsaufwendungen in stationären Einrichtungen. Zur Thematik folgten zwei Diskussionsrunden aus unterschiedlicher Perspektive: zum einen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen, der Pflegenden, sowie der Pflegeeinrichtungen und -dienste und der  Pflegekassen und zum anderen aus Sicht der Politik.

Zu Gast in der Landesvertretung Bremen 

Die „Hausherrin“ Frau Ulrike Hiller, Bevollmächtigte der Freien und Hansestadt Bremen, verwies gleich in ihrer Begrüßung auf den hohen Informations- und Beratungsbedarf der Bevölkerung angesichts der zu erwartenden zahlreichen Neuregelungen auf Grund des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.

Stellvertretend für alle BündnispartnerInnen begrüßten Brigitte Döcker, AWO Bundesverband e.V., und Sylvia Bühler, ver.di-Bundesvorstand, die TeilnehmerInnen. Dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff nun tatsächlich realisiert werde, sei auch dem Druck dieses Kooperationsbündnisses zu verdanken. Damit seien aber noch nicht alle Forderungen des Bündnisses erfüllt, betonte Brigitte Döcker. Die Situation der beruflich Pflegenden müsse - in erster Linie durch Aufstockung der Personalkapazität - noch deutlich verbessert werden. Außerdem sei für eine umlagegesicherte, solidarische und paritätische Finanzierung für die Pflege von Nöten. Sylvia Bühler beklagte die hohe Altersarmut, die sowohl unter pflegenden Angehörigen als auch professionell Pflegenden herrsche. Dieser Umstand ist ein gesellschaftspolitisches Armutszeugnis, denn „gute Pflege ist ein Menschenrecht!“. Es gibt auch weiterhin in der Pflege viel zu tun. „Wir bleiben dran!“

Dr. Hermann Schulte-Sasse, Bremer Senator für Gesundheit, forderte im Hinblick auf den Wechsel von drei Pflegestufen zu künftig fünf Pflegegraden eine Anpassung der Leistungssystematik. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ziele eine gesellschaftliche Teilhabe trotz Pflegebedürftigkeit an. Unter Bezugnahme auf die jüngst beendete Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege forderte er einen Ausbau der Entscheidungs- und Gestaltungsrechte und -kompetenzen der Länder und Kommunen.

Politisches Grußwort

Dr. Martin Schölkopf vom Bundesministerium für Gesundheit verwies auf 20 Jahre Pflegeversicherung und 2,7 Millionen Pflegebedürftige, die mittlerweile Leistungen erhielten. Durch mehrere Reformen der Pflegeversicherung seien die Angebote immer weiter ausgebaut worden. Und immer sei mehreren Herausforderungen gleichzeitig zu begegnen: der steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen, der Zunahme von Menschen mit dementiellen Erkrankungen, dem Fachkräftemangel in der Pflege, dem ständigem Optimierungsbedarf im gesundheitlichen und pflegerischen Versorgungssystem – und all das auf Basis einer gesicherten Finanzierung. Eine gute Pflege hänge aber nicht nur vom Gesetzgeber ab, Pflege gehöre in die Mitte der Gesellschaft. Mit Blick auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sagte er: „Am Ende wird alles gut. Wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“

„Das neue Begutachtungsassessment ist dem bisherigen System überlegen“

Mittelpunkt der Veranstaltung war die Vorstellung der beiden Erprobungsstudien zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem neuen Begutachtungsinstrument zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Pflegeversicherung. Beide Studien kommen zu dem Ergebnis, dass das neue Instrument der Begutachtung umsetzbar ist und dass dieses den Pflegebedarf besser abbildet als das bisherige Verfahren. 

„Die Praktikabilitätsstudie belegt die Praktikabilität des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes“, resümierte Dr. Peter Pick vom MDS e.V. nach Vorstellung der Ergebnisse der Praktikabilitätsstudie zum neuen Begutachtungsassessment (NBA) zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI. Für die Studie wurden 1698 erwachsene Pflegebedürftige nach dem gültigen als auch dem NBA begutachtet. Außerdem konnten 297 Kinder (bis 11 Jahre) mit dem NBA begutachtet werden. Im NBA gelte ein neuer veränderter Maßstab: Gemessen wird der Grad der Selbstständigkeit in allen Lebensbereichen während aktuell noch der Fokus auf den Einschränkungen liegt. Außerdem werden die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie die Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte stärker gewichtet. Die neue Gewichtung der Module bestätigt den Fokus auf den Grad der Selbstständigkeit.

Die Stärken des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes sieht der MDS in einer „gerechteren Einstufung“, einer vereinfachten Strukturierung, Nachvollziehbarkeit und Transparenz, sowie in der Abkehr von den Pflegeminuten. Das „Geschacher“ um die Pflege in Minuten höre auf. Das NBA ermöglicht eine bessere Einstufung für PatientInnen mit somatischen und kognitiven Einschränkungen. 

Fragen hingegen wirft vor allem die Überleitung für heutige LeistungsempfängerInnen auf. „Wie werden die Pflegegrade mit Leistungen unterlegt?“ Dr. Pick betonte, dass eine Umsetzungszeit von 18 Monaten unumgänglich sei. Die GutachterInnen müssten auch neu geschult werden. Er fordert intensive Öffentlichkeitskampagnen zu den Neuerungen des Begriffs der Pflegebedürftigkeit und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel.

Das neue Bewertungssystem in der Praxis

Mathias Fünfstück von der Universität Bremen stellte die Studie „Evaluation des NBA- Erfassung von Versorgungsaufwendungen in stationären Einrichtungen“ vor. Zur Vorgehensweise: Bei 1.586 BewohnerInnen in 39 stationären Einrichtungen in sieben Bundesländern haben PflegerInnen den Versorgungsbedarf und die pflegerischen Interventionen nach alten Pflegestufen und neuen Pflegegraden pro PatientIn gemessen. Ziel war es, eine statistische Erhebung für die pflegerischen, gesundheitlichen und betreuerischen Leistungen, deren Anzahl sowie dem notwendigen Zeitaufwand nach Pflegegraden in stationären Einrichtungen zu erstellen.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mit dem neuen Begutachtungssystem NBA eine Gleichstellung von Patientinnen mit somatischen, psychischen und kognitiven Einschränkungen stattfindet. „Innerhalb der neuen Pflegegrade unterscheiden sich die Zeitaufwände für Personen mit somatischen und kognitiven Einschränkungen nicht signifikant. Die Zeitaufwände für beide Personengruppen liegen auf ähnlichem Niveau. Damit ist das NBA dem derzeitigen Begutachtungssystem deutlich überlegen. Innerhalb der Pflegestufen unterscheiden sich die Zeitaufwände für diese beiden Personengruppen nämlich erheblich“, heißt es im Abschlussbericht.

Diskussionsrunde „Aus Sicht der Betroffenen“

Der Tenor aus der ersten Diskussionsrunde mit „Betroffenen“ war einstimmig. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff schließt die Gerechtigkeitslücke zwischen somatischen, psychischen  und kognitiven Einschränkungen. Gelobt wurde auch die verbesserte Transparenz. Trotzdem sei der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff kein „All-Heilmittel“. Noch sei offen, wie die neue Einstufung in Leistungen für die Versicherten umgesetzt werde. Es bedürfe aber passgenauer und gerechter Leistungen - dies dürfe auch nicht an einer unzureichenden Finanzierung scheitern. Marco Frank, DGB, fordert darüber hinaus bessere Ausbildungsbedingungen und eine Aufwertung der Berufe in der Pflege. Die Rahmenbedingungen müssten sich drastisch verbessern, damit mehr junge Menschen in den Beruf einsteigen und auch langfristig bleiben. „Pflegen befriedigt und gibt den Menschen viel zurück. Die Bezahlung und der Stress sind jedoch unbefriedigend“.

„Der neue Begriff der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist ein guter neuer Anfang.“

Die zweite Diskussionsrunde mit den pflegepolitischen SprecherInnen aller vier Fraktionen des Deutschen Bundestages entwickelte sich schnell zu einem Schlagabtausch und eine Diskussion um politische Grundeinstellungen. Die Einstiegsfrage lautete „Ende gut, alles gut?!“. Meine Antwort: „Der Pflegebedürftigkeitsbegriff und das NBA ist ein neuer Anfang.“ Ich begrüße diesen Paradigmenwechsel sehr. Es wird mehr Gerechtigkeit in die Pflege einziehen, denn sind noch längst nicht alle Herausforderungen gelöst. Wichtig werden nun die politischen Entscheidungen zur leistungsrechtlichen Hinterlegung der einzelnen Pflegegrade sein. Ich bedauere es immer noch, dass wir mit dem auf Wunsch der CDU eingeführten Pflegevorsorgefonds mehr als eine Milliarde Euro für die konkrete Pflege verloren haben. Zuwenden müssen wir uns auch weiterhin den Herausforderungen zum Beispiel der drohenden Altersarmut, der Gesundheitsförderung von informell und professionell Pflegenden. Sorge zu tragen ist auch der Vielfalt innerhalb der großen Gruppe der Pflegebedürftigen. Wir sind noch lange nicht am Ende angekommen!

Das Bündnis für GUTE PFLEGE 

In dem 2012 gegründeten „Bündnis für gute Pflege“ haben sich 23 große, bundesweit aktive Organisationen, Sozial- und Wohlfahrtsverbände, kirchliche Träger und Selbsthilfe, Gewerkschaften und Berufsverbände und 14 regionale Unterstützer zusammengeschlossen, um für Verbesserungen in der Pflege zu kämpfen und die Politik zum Handeln bewegen. Sie repräsentieren insgesamt 13,6 Millionen Einzelmitglieder, zu denen hunderttausende Pflegebedürftige und Menschen aus Pflegeberufen gehören sowie rund 16.500 Pflegeeinrichtungen und -dienste, in denen täglich 550.000 Menschen betreut werden und 400.000 Beschäftige tätig sind. Gemeinsam fordern die BündnispartnerInnen Perspektiven für eine bessere Pflege in Deutschland, u.a.

  • maßgeschneiderte Leistungen für Pflegebedürftige
  • mehr Unterstützung und Anerkennung für Angehörige
  • bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen
  • eine gerechte, solidarische und paritätische Finanzierung.