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„Hilfen und Unterstützung - nicht nur Moral - hilft der Nachbarschaft und den Prostituierten im Kurfürsten-Kiez“

Bis in die 80er Jahre gestaltete sich das Neben- und Miteinander recht alltäglich. Prostituierte standen neben Gemüsehändlern. Man tolerierte und kannte sich. ‚Wenn man einkaufte, plauderte man miteinander, manche hatten auch ein Auge darauf, wo die Kinder zum Spielen abgeblieben waren, wenn die Mütter sie suchten‘, so beschreibt das Schöneberger Künstlerpaar Sibylle Nägele und Joy Markert das Miteinander in ihrem Buch „Die Potsdamer Straße. Geschichten, Mythen und Metamorphosen“. Was hat sich seitdem verändert?

Sozialarbeit und Prostitution im Kurfürsten-Kiez

Wer die Straßen des Kurfürsten-Kiezes einmal bewusst durchläuft, merkt schnell, dass hier ein hart umkämpfter Markt herrscht, auf dem sich die prostituierenden Frauen und Trans*menschen täglich weitaus länger als die ansonsten 8-Stunden währenden Arbeitstage behaupten müssen. Viele von ihnen leben in schwierigen Situationen und prekären Wohnverhältnissen oder sind wohnungslos. Eine wichtige Anlaufstelle für die Prostituierten ist der mobile Beratungsbus der Straßensozialarbeiterinnen von Gangway e.V.. Diese sind dienstags und donnerstags von 20 bis 23.30 Uhr mit dem Bus und einmal tagsüber zu Fuß im Kiez anzutreffen. Im „Schutzraum“-Bus können sich die Frauen mal hinsetzen und sich einmal „ausquatschen“ über ihre Vorhaben, über ihre Probleme.

Das Team von Gangway unterstützt „Wohnungslose, von Wohnungslosigkeit bedrohte Volljährige und Menschen, die sich in vergleichbaren schwierigen Lebenslagen befinden sowie deren soziales Umfeld.“ „Viele der Frauen haben kein nachweisbares Einkommen, keine Kontoauszüge, die sie dem Vermieter zeigen könnten. Darum erhalten sie keinen Mietvertrag. Wir vermitteln überall dorthin, was für die Person gerade von Nöten ist und können bei Bedarf begleiten.“ Sie bieten eine Primärversorgung, Information und Beratung, Unterstützung und Begleitung sowie Vermittlung ins gesamte Berliner Hilfesystem an. Ziel ist es aber, das Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Weniger Moralempfehlungen - dafür mehr wirkliche Hilfe

Dabei soll jedoch Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es um das Ausloten von Alternativen und um ein gemeinsames Miteinander von Nachbarschaft und Prostitution.

Heike Sievers und Simone Glaß vom Team Streetwork an Brennpunkten informierten mich beim gemeinsamen Treffen im Deutschen Bundestag am 23. Oktober 2014 über ihre sozialarbeiterische Tätigkeiten. Mit dabei war Elvira Berndt vom Träger Gangway e.V. - Straßensozialarbeit in Berlin. Hintergrund des Gespräches sind die aktuellen politischen Diskussionen zur Neugestaltung des Prostitutionsgesetzes. Seit 2002 ist Prostitution nicht mehr sittenwidrig sondern legal. Im bestehenden Prostitutionsgesetz fehlen aber arbeits- und gewerberechtliche Regelungen.

Freierbestrafung, Zwangsuntersuchungen, Kondomzwang sind keine wirklichen Unterstützungsangebote

Die Prostituierten sind auf Beratung und Hilfe angewiesen. Sie wünschen sich dabei aber eine weniger moralische Betrachtung, wie sie heute vielfach zu hören und lesen sei, berichteten die beiden Streetworkerinnen. Aus ihrer Sicht sind weder die zurzeit viel diskutierte Freierbestrafung, noch Zwangsuntersuchungen, noch der Kondomzwang geeignete Mittel, die Lebens- und Arbeitssituation der Frauen zu verbessern. Die Freierbestrafung führe weniger dazu, den Menschenhandel einzudämmen als vielmehr zu weniger Kunden und damit weniger Geld. Der Zwang, auf Angebote wie zum Beispiel Geschlechtsverkehr ohne Kondom eingehen zu müssen, werde sich vergrößern, um ihre Einkünfte aufrechtzuerhalten. Die Frauen wollen schon von alleine ihren Körper, der ja auch ihr Kapital sei, schützen. Gesundheitliche Gefahren würden vielmehr ansteigen. Gesundheitliche Zwangsuntersuchungen sind auch keine Lösung - viele der Frauen würden ihren Kiez dafür nicht verlassen. Die Hoffnung, ihnen mit einem vertraulichen Gespräch mit einem/einer Arzt/Ärztin die Möglichkeit zu geben, ob sie sich wirklich freiwillig zu äußern oder gar kundtun, dass sie Opfer von Menschenhandel sind, sei ein Irrglaube. Nicht mehr Schutz, sondern Ausgrenzung von gesundheitlichen Maßnahmen sei eher zu erwarten. Ein weiteres Hindernis sei, dass viele der aus mittel- oder osteuropäischen Staaten stammenden SexarbeiterInnen gar keine MedizinerInnen kennen. Folglich bestehe erst einmal große Angst und Zurückhaltung bei einem Arztbesuch. Eine Zwangsuntersuchung würde als behördliche Kontrolle und weniger als individuelle Hilfe verstanden.

Außer in Berlin und Rostock existieren in allen anderen Bundesländern und Städten sogenannte Speerzonen oder Speergebiete, in denen keine Prostitution stattfinden darf. Prostitution wird in Gewerbegebiete oder an den Stadtrand verdrängt. Hier ist um die Sicherheit und den Schutz der Frauen aber viel schlechter bestellt.

Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Kurfürsten-Kiez

Neben ihren Sorgen und Anmerkungen sind die Straßensozialarbeiterinnen von Gangway auch mit Lösungsvorschlägen zu mir gekommen. Viele Sexarbeiterinnen kommen nicht aus Deutschland. Sprachbarrieren sind ein häufiges Hindernis. Sie schlagen eine Sprachenhotline vor, die mindestens von 18:00 Uhr bis 24:00 Uhr erreichbar ist und insbesondere Sprachen des süd-osteuropäischen Raums abdeckt. Mit Hilfe der Sprachenhotline wäre es ihnen möglich schneller und adäquater in Notsituationen zu reagieren und somit „fehlerfreier“ die individuell notwendigen Unterstützungen von Krisendienste, Notübernachtungen oder auch medizinischen Behandlungen zu ermöglichen.

Aus Gesprächen mit den AnwohnerInnen weiß das Team auch, dass die Haltung gegenüber den Prostituierten keinesfalls grundsätzlich negativ ist. Die AnwohnerInnen wünschen sich aber einige Regeln zur gemeinsamen Nutzung des öffentlichen Raumes: zum Beispiel ein verstärkter BSR-Einsatz, keine Prostitution vor den Kitas und keine öffentliche Nacktheit. Möglich wäre auch die Aufstellung sogenannter „Popp-Boxen“, auch Verrichtungsboxen genannt. Die „Popp-Boxen“ sind je nach Größe und Ausstattung mit Notknöpfen und Sperrmaßnahmen zur Sicherheit der Frauen ausgestattet und bilden zugleich einen Sichtschutz.

Wünsche und Anregungen

Heike Sievers und Simone Glaß sind davon überzeugt, dass ein gemeinsames Miteinander von Nachbarschaft und Prostitution möglich ist. Es bedarf des Auslotens von Maßnahmen, mit denen die Interessen der AnwohnerInnen als auch der Prostituierten in Einklang gebracht werden können. Sie betonten auch, dass auf der Kurfürstenstraße - im Gegensatz zu anderen Gebieten in der Bundesrepublik - keine Minderjährigen arbeiten. Darauf achten die Frauen selber.

Mich hat das Gespräch dazu angeregt, mir demnächst - ggf. mit KollegInnen des Deutschen Bundestages - im Rahmen eines abendlichen Rundganges mit den StreetworkerInnen erneut selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Um realitätsferne Entscheidungen durch „die Politik“ vorzubeugen, ist ein Austausch mit den Betroffenen nötig. Spätestens seit meinem Besuch beim Projekt Olga, einem Kontaktladen für drogenabhängige und sich prostituierende Frauen in der Kurfürstenstraße 40, ist mir bewusst, dass die Handlungsorientierung für Neuregelungen beim Prostitutionsbesetz auf den Schutz der SexarbeiterInnen gerichtet sein muss. Sanktionierungen und die Verdrängung in die Illegalität bewirken das Gegenteil.

Ich danke Heike Sievers und Simone Glaß für das informative Gespräch und Elvira Berndt für die Zusammenführung mit dem Team Brennpunkte von Gangway e.V.