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Wohnzimmer-Gespräch IV: Im Garten „politisch auf den Zahn gefühlt“

Schon der Eintritt in die Gartenanlage mit den vielen japanischen Kirschblütenbäumen war ein Erlebnis, für das ich Sabahat Emiroğlu danke. Sie hat ihr „Wohnzimmer-Gespräch“ in der Tempelhofer Hoeppenerstraße am 6. Mai 2013 in den Garten verlegt. Eine gute Entscheidung nicht nur wegen des schönen Wetters. Diese Gartenanlage wird von vielen der hier lebenden Familien gemeinschaftlich genutzt. „Bei schönem Wetter frühstücken wir sogar alle gemeinsam draußen“, so eine der Nachbarinnen. Gekommen waren Kind und Kegel, jung und alt, Familienmitglieder, FreundInnen und NachbarInnen, um mir als sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneten, als Tempelhof-Schöneberger SPD-Direktkandidatin für die Bundestagswahl 2013 politisch „auf den Zahn zu fühlen“.
Wie gut, dass die Kinder gleich Löwenzahnköniginnen krönten, so wurde die anfängliche Scheu schnell überwunden. Für die viele war es das erste Mal, eine Politikerin live und ganz nah zu erleben, und „der Politik“ gegenüber direkt loszuwerden, was ihnen schon lange auf der Seele brennt. Bei leckeren Keksen, Kaffee und Kaltgetränken wurde dann aber mehrere Stunden sehr angeregt über Themen, die bewegen - unabhängig davon, ob sie politisch der Kommunal, Landes- oder Bundesebene zuzuordnen sind -, diskutiert.
Die erste benannte Sorge einer türkischstämmigen Elternvertreterin war, dass einzelne Straßenzüge sich aufgrund der Zuweisung der Ämter zu „Migrantenstraßenzügen“ entwickeln würden. Damit verbunden ist ihre Sorge, dass Kita und Schule gerade mit der Förderung der deutschen Sprache für alle überfordert seien. Weitere Diskussionsthemen waren Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, Jugendarbeitslosigkeit, der Fachkräftemangel, die notwendige Aufwertung der Pflegefachberufe aber auch die geplanten Bauvorhaben am Tempelhofer Feld, Regelungen zur Abschaffung, zumindest Reduzierung von Glücksspielcasinos, Mietkostenerhöhungen und der Beitritt der Türkei in die EU. Letzteres ist schnell beantwortet: Die SPD verfolgt das klare Ziel eines EU-Beitritts der Türkei und hat dieses auch in ihrem SPD-Regierungsprogramm 2013 festgeschrieben.

Das „Ihr“ und das „Wir“ überwinden

Das wesentliche und dominierende Hauptthema der Runde jedoch war bestimmt durch das Gefühl, nicht als Teil „der deutschen Gesellschaft“ anerkannt und akzeptiert zu sein, Rassismus zu fürchten, Diskriminierung zu erleben. In Erinnerung geblieben ist mir eine der anwesenden jungen Frauen aus der Runde, die, obgleich akzentfreies Deutsch sprechend, seit langem deutsche Staatsbürgerin ist, stets von sich selbst als „Ausländerin“ sprach. Darin liegt etwas schmerzhaftes, wenn junge Menschen sich trotz dem sie sich hier zu Hause fühlen, sich selbst als "AuländerIn" bezeichnen.

Die Bilder des „ihr“ und des „wir“ sind wechselseitig. Ich bin der Meinung: Das „ihr“ und „wir“ splittert Menschen in Gruppen auf und versieht sie mit Bildern und Zuschreibungen, die in der Regel nicht stimmen. Wir alle zusammen sind Berliner und Berlinerinnen, sind die Bevölkerung Deutschlands, sind „die Gesellschaft“. Wir alle prägen unser Einwanderungsland Deutschland.
Mir hat dieses Gespräch erneut deutlich gemacht, wie notwendig es ist, Teilhabe nicht nur zu ermöglichen sondern Partizipation für alle zu gewährleisten. Es müssen auch alle Kenntnisse davon haben, dass sie als Bürgerinnen und Bürger Rechte haben, dass es Projekte und Initiativen gibt, die darüber informieren und Mensch auch zu ihrem Recht verhelfen. Erst wenn alle Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, „auf Augenhöhe“ akzeptiert zu sein, werden wir gemeinsam ein neues buntes WIR IN DEUTSCHLAND leben.

Wir haben nur eine Zukunft - eine gemeinsame!

„Wollen die Deutschen wirklich mit uns leben?“, fragte mich eine der Nachbarinnen mit ernster Stimme und verwies beispielhaft auf die Brandanschläge in Solingen und Mölln, verwies auf die NSU-Mordserie, verwies auf mannigfache Alltagsdiskriminierungen. Ich habe Verständnis für diese Frage.
Die Antwort ist ein einfaches: Ja!, aber die Begründung ist noch viel komplexer:
-    „Die“ Deutschen gibt es eben so wenig wie „die“ MigrantInnen. Schon jetzt ist die Bevölkerung Deutschlands bunt, sind Haltungen und Meinungen so  gemeinsam und verschieden wie du und ich.
-    Deutschland hat Arbeitskräfte geholt und Menschen sind gekommen. Es gab eine zu lange Phase, in der Deutschland in breiten konservativen Teilen die damit verbundenen Herausforderungen eines Einwanderungslandes nicht bzw. nur sehr ungenügend angenommen hat. Das rächt sich bis heute.
-    Wir haben heute gemeinsam die 2., 3. Chance unser Einwanderungsland aktiv und engagiert in allen Bereichen zu gestalten: in der Politik, der Schule, der Kultur, am Arbeitsplatz. Gemeinsam! Überall!
-    Es ist wichtig, zu wissen, dass jede Bürgerin, jeder Bürger, jede Arbeitnehmerin, jeder Arbeitnehmer Rechte hat! Wichtig ist es die Stellen zu kennen, an die sich jede/r wenden kann, u.a. das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg. Niemand muss sich Diskriminierung gefallen lassen!
-    Deutschland braucht Zuwanderung! Demografischer Wandel und Migration sind die Megatrends von Gegenwart und Zukunft. Politik, aber auch wir alle als Bürgerinnen und Bürger, hat diese Trends im Interesse aller konstruktiv zu gestalten. Nur so bekämpfen wir den Fachkräftemangel zum Beispiel in der Pflege. Nur so sichern wir unsere Sozialversicherungssysteme. Nur so sichern wir unseren Wohlstand.
-    Hierfür braucht es Bildung, Bildung, Bildung!

Ich schäme mich als Bürgerin und als Politikerin für das Versagen unseres Rechtstaates. Schäme mich dafür, dass über ein Jahrzehnt die terroristischen MordtäterInnen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) morden konnten, ohne entdeckt zu werden. Ich schäme mich dafür, dass rassistische Strukturen nicht gesehen, nicht erkannt wurden. Entsetzt und bestürzt darüber sind nicht nur Menschen mit Migrationsgeschichte. Ich begrüße die Einrichtung des NSU-Untersuchungsausschusses auf Bundesebene, die verschiedenen Untersuchungsausschüsse in verschiedenen Bundesländern sehr. Es darf nichts unter den Tisch gekehrt werden - hier besteht absoluter Konsens zwischen allen Bundestagsfraktionen. Ich bin davon überzeugt, dass der NSU-Prozess einer der wichtigsten Prozesse der Nachkriegszeit ist. Es geht darum, verloren gegangenes Vertrauen in unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie wieder aufzubauen. Rechtsstaatliche Instanzen stehen hier in der Pflicht.

Wir müssen alle gemeinsam noch sehr viel tun, damit ein besonders gehegter Wunsch, hier von einer der Frauen geäußert, in Erfüllung gehen kann: „Ich wünsche mir ein sorgenfreies gemeinschaftliches Miteinander.“ Diesen Wunsch teile ich.

WIR sind bunt und WIR sind schön. Das WIR entscheidet - heute und in Zukunft!

Hier der Text auf Türkisch:
http://www.mechthild-rawert.de/inhalt/2013-05-10/bah_ede_s_ra_sizde