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Sozialdemokratische Alternativen zum Merkel-Fiskalpakt

Europa befindet sich in einer Zerreißprobe. Ein großer Teil der Bevölkerung erkennt, dass ein reines Spardiktat à la Merkelscher Prägung für Europa keine Lösung ist. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger glauben angesichts der vielfältigen Krisen - Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise - zunehmend weniger, dass Politik das Zepter des Handelns gegenüber den Finanzmärkten wirklich noch in den Händen hält.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern substantielle Änderungen des von den europäischen Staats- und Regierungschefinnen der Europäischen Union am 02. März beschlossenen Fiskalpaktes. Ohne Änderungen keine Stimmen. Wir wollen mit einer Entschuldungspolitik UND einer Wachstums- und Beschäftigungspolitik UND einer Politik, die mittels Finanztransaktionssteuer auch die Verursacher an den Kosten der Krisenbewältigung beteiligt, der Vertrauenskrise in die Demokratie entgegenwirken. Unsere Aufgabe ist es, das Primat der Politik im Sinne einer Politik für das Gemeinwohl zu sichern.

Die Menschen spüren, dass die Frage nach sozialer Gerechtigkeit eine zentrale Herausforderung für uns alle ist. Sie registrieren, dass Europa unter dem Druck der Märkte zwar in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen enger zusammenrückt, dieses aber bei sozialpolitischen Fragen keineswegs mit gleicher Intensität geschieht.

Gerade diese Debatten um Sozialstaatlichkeit und um die demokratische Verfasstheit müssen aber geführt werden - und zwar jetzt! Es wäre undemokratisch und ein Verrat an der Europäischen Idee, sich der vermeintlich „alternativlosen“ marktkonformen Demokratie, sich dem Spardiktat Merkelscher Prägung und der sie tragenden CDU/CSU und FDP-Fraktionen nicht mit aller Verve entgegenzustellen.

Nichts ist alternativlos! Vielmehr müssen wir uns einmischen, müssen den „Europäischen Fiskalpakt“ im Kontext von Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, im Kontext der Handlungsfähigkeit unseres Staatswesens sowie öffentlicher Daseinsvorsorge und einer umfassenden staatlichen Infrastruktur, die allen Bürgerinnen und Bürgern dient, diskutieren. Wir müssen reden, müssen debattieren über Teilhabe und Partizipation an demokratischen Prozessen, wir müssen uns einmischen in unserer Demokratie. Das ist die drängende Aufgabe der Sozialdemokratie jetzt.

Europäischer Fiskalpakt - Ohne Alternative?

Am 11. Juni habe ich zur Fraktion vor Ort-Veranstaltung Europäischer Fiskalpakt - ohne Alternative? ins DGB-Haus, Keithstraße, eingeladen. Drei Stunden lebhafte Debatte haben gezeigt, wie wichtig das Thema für Bürgerinnen und Bürger, für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, für Genossinnen und Genossen ist. Ich habe mich gefreut, mit Dr. Carsten Sieling, Mitglied im Finanzausschuss des Bundestages, Prof. Dr. Dorothea Schäfer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Gabriele Bischoff vom DGB, drei hochrangige ExpertInnen auf dem Podium zu haben, die kenntnisreich und profiliert ihre Positionen darlegten. Keine Frage der über 70 Anwesenden blieb unbeantwortet.

Ursachen der Krise
Um die wirklichen Ursachen der dramatischen Situation, in der sich Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Italien befinden, zu verstehen, erklärte der SPD-Bundestagsabgeordnete Carsten Sieling, was auf den Finanzmärkten in den letzten Jahren passiert ist. Im Jahr 1990 betrug die Weltwirtschaftsleistung 22 Billionen US$ und auf den Finanzmärken wurden 2 Billionen US$ umgesetzt. Im Zuge der neoliberalen Deregulierung der Finanzmärkte in den 90er Jahren kehrte sich das Verhältnis um. Heute beträgt die reale Weltwirtschaftsleistung 70 Billionen US$, aber auf den Finanzmärkten wird die unglaubliche Summe von 708 Billionen US$ spekuliert. Dies steht in keinem Verhältnis mehr zur Realwirtschaft und erklärt auch die Macht der Finanzmärkte. Das Platzen der aufgeblähten Spekulationsblase 2008 führte beinahe zum Kollaps des weltweiten Bankensystems. Die Banken wurden durch die Staaten gerettet - allerdings zum Preis eines drastischen Anstiegs der Staatsverschuldungen. Diese hohe Staatsverschuldung macht einige Länder verwundbar durch Spekulationsattacken auf den Finanzmärkten.

Eine Regulierung der Finanzmärkte, wie sie die SPD nun schon seit Jahren fordert, ist zwingend notwendig. Eines der Regulierungsinstrumente ist die Finanztransaktionssteuer. Diese dämmt nicht nur die Spekulationen ein, sondern beteiligt richtigerweise auch die Krisenverursacher an den Bewältigungskosten.

Die fehlende Finanz-, Lohn-, Steuer- und Sozialpolitik der EU war ein Konstruktionsfehler bei der Einführung des Euro - das sage ich, obgleich die Bundesrepublik Deutschland so sehr vom Euro profitiert hat. Große Handelsungleichgewichte waren die Folge: So produzierte Deutschland hohe Überschüsse während zum Beispiel Griechenland oder Portugal negative Handelsbilanzen erwirtschafteten.

Als Reaktion auf die sich ausbreitende Krise beschlossen 25 EU-Regierungen am 02. März den Europäischen Fiskalpakt.

Wie wirkt der Fiskalpakt?
Der Europäische Fiskalpakt à la Merkel bedeutet eine Schuldenbremse für alle Euro-Länder. Gestärkt wird auch der Einfluss der EU-Kommission auf die nationalen Haushalte. Die Euro-Länder verpflichten sich, dass ihre Staatshaushalte nur noch ein strukturelles Defizit von 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) haben dürfen. Diese neue Regelung muss in der jeweiligen nationalen Verfassung verankert werden. Darüber hinaus verpflichten sich die Mitgliedstaaten, ihre Ausgaben und Schulden zu verringern. Die sogenannte 20er Regel besagt: Überschreiten die Gesamtschulden 60% des BIP, muss jährlich ein Zwanzigstel des Schuldenanteils oberhalb der 60% abgebaut werden.

Die Mitgliedstaaten müssen darüber Bericht erstatten, die jährlichen Haushaltspläne werden dann von der EU-Kommission und dem Rat überwacht. Wenn Mitgliedstaaten neue Schulden aufnehmen wollen, müssen sie es vorab melden.

Die SPD wird dem Fiskalpakt in dieser Fassung nicht zustimmen. Ohne Impulse für Wachstum und Beschäftigung, ohne Entschuldungsregularien und ohne eine Finanztransaktionssteuer kommt die EU nicht aus der Krise. Deswegen hat die SPD eine Reihe von Antworten auf die jetzige Krise entwickelt und verhandelt hart, um eine Kurzänderung im Fiskalpakt durchzusetzen.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen u.a.:

  1. Eine Finanztransaktionssteuer und die wirksame Regulierung der Finanzmärkte
  2. Ein europäisches Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit  und Wachstum
  3. gesicherte Kompensationsleistungen für Länder und Kommunen
  4. die Stärkung der öffentlichen Einnahmen durch eine aktive Steuerpolitik
  5. einen Altschuldentilgungsfonds  und gemeinschaftliche Haftung
  6. die Sicherstellung des parlamentarischen Budgetrechts für den Deutschen Bundestag aber auch für das Europäisches Parlament

Entstaatlichung durch die Schuldenbremse
Eine schleichende Entstaatlichung durch den Fiskalpakt befürchtet die Wirtschaftswissenschaftlerin Dorothea Schäfer vom DIW. Sie hat die Auswirkungen des Fiskalpaktes berechnet. Bei konsequenter Anwendung des Fiskalpaktes, d.h. eine jährliche Schuldenaufnahme 0,5 Prozent sinkt die Verschuldungsquote bis zum Jahr 2070 auf 30 Prozent. Dies käme einer Entstaatlichung gleich und wäre keineswegs sinnvoll. Problematisch sei außerdem der zu erwartende Rückgang von Investitionen bei gleichzeitigem Investitionsstau.

Die Finanzmarktexpertin wies insbesondere auf die Unklarheiten im Vertragstext zur 20-Regel hin. Danach müssen Staaten, die mehr als 60 Prozent Verschuldung vom BIP aufweisen, 1/20 der Schulden pro Jahr tilgen. Der Vertragstext lässt allerdings offen, ob 1/20stel der Gesamtschulden oder 1/20stel der Schulden oberhalb der 60 Prozent Marke gemeint sind. Wir erwarten hierzu Aufklärung durch die Regierung.

Es ist eine soziale Krise
Wir haben nicht nur eine Finanz- und Wirtschaftskrise sondern auch eine soziale Krise, betonte Gabriele Bischoff vom DGB. Die Leiterin der Abteilung Europapolitik beim DGB-Bundesvorstand beschrieb eindringlich die Folgen der bereits eingeleiteten Sparpolitik. Kürzungen von Löhnen und Renten, die Lockerung des Kündigungsschutzes führen in eine Abwärtsspirale. Das spaltet die Gesellschaften und erschüttert das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fürchten um ihre Arbeitsplätze bzw. viele haben diese in einigen Mitgliedsstaaten schon verloren.

In dieser Situation seien Wachstums- und Investitionsprogramme nötig, die auf die einzelnen Länder zugeschnitten sind. Der derzeitige Fiskalpakt sei aber durch eine einzige, alleine auf Sparen und Kürzungen reduzierte Austeritätspolitik und differenziere auch nicht zwischen den Bedingungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten.

Die Europaexpertin des DGB befürchtet auch, dass der Fiskalpakt eine Machtverschiebung weg vom Europäischen Parlament hin zum Rat und zur Kommission bedeute. Das wäre dann perspektivisch weniger Europa als mehr demokratisch legitimiertes Europa.

Die Wahl von Hollande gewährt ein Zeitfenster für fortschrittliche Politik
Die Wahl von François Hollande zum französischen Präsidenten hat ein Zeitfenster für eine fortschrittliche Politik aufgemacht. Die Gewerkschaften fordern einen europäischen Sozialpakt, eine Finanztransaktionssteuer und eine Reichensteuer, um die Verantwortlichen und GewinnerInnen der Krise an den Kosten zu beteiligen.

Gerade für die SPD bietet die neue sozialistische Regierung in Frankreich die Chance, wichtige Ziele für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Verhandlungen mit der Bundesregierung zu erreichen. Deswegen fuhr die „SPD-Troika“ Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier zu François Hollande. Ziel ist es, eine gemeinsame Strategie für eine Veränderung des Fiskalpaktes zu entwickeln. Dabei ist klar, dass jedes Land die jeweils eigenen Interessen im Blick behält.

Die SPD führt weitere Debatten um die Auswirkungen und Veränderungen des Fiskalpaktes auf ihrem Parteikonvent am 16.6.12, in der SPD-Bundestagsfraktion finden Sondersitzungen statt. Eine breite Beteiligung ist u.a. damit gesichert.

v.l.n.r. Gabriele Bischoff, Mechthild Rawert, Prof. Dr. Dorothea Schäfer, Dr. Carsten Sieling

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Der Fiskalpakt und seine Auswirkungen_Carsten Sieling MdB_FvO 11.06.2012.pdf3 MB
Präsentation_Schäfer _DIW.pdf753.12 KB