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Das Reichstagsgebäude auf etwas andere Art

Das Reichstagsgebäude wird normalerweise nicht mit Kunst verbunden. Wenn der Name „Reichstag“ fällt, denkt mensch auch nicht in erster Linie an die Architektur des Gebäudes, stattdessen wird mit dem Gebäude die Politik assoziiert. Dabei kann das Gebäude mit der politischen Entwicklung Deutschlands, mit den jetzigen bundespolitischen Entscheidungen, oder auch nur mit einem großen Saal voller blauer Stühle und einem Redepult, der manchmal in den Nachrichten zu sehen ist, verbunden werden und all dies würde zutreffen.

Es stimmt: Der im Reichstagsgebäude angesiedelte Deutsche Bundestag ist das politische Herz der Bundespolitik. Das Gebäude ist aber noch viel mehr als das. Deswegen biete ich Bürger*innen aus Tempelhof-Schöneberg regelmäßig Kunst- und Architekturführungen durch das Reichstagsgebäude an. Die letzte Führung dieser Art fand am 18. März 2017 statt, einem politisch hoch bedeutsamen Tag.

Der 18. März – ein besonderes Datum in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus

Vor 224 Jahren (1793) wurde an diesem Tag feierlich die Mainzer Republik verkündet, die jedoch nur etwa vier Monate bestand, bevor sie vor den preußischen Truppen kapitulierte. Im Zuge der Märzrevolution 1848 kam es am 18. März diesen Jahres zu dem sogenannten Barrikadenaufstand in Berlin, bei dem über hundert Menschen ihr Leben verloren. Die zunächst friedliche Demonstration vor dem Brandenburger Tor gegen die Vormacht des Adels, für Pressefreiheit sowie für die Schaffung eines nationalen Staats eskalierte, als das Militär anrückte. Über hundert Jahre später, im Jahr 1990 dann, fanden am 18. März die ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer statt. Und nun, Jahrzehnte später, werden Bürger*innen aus dem In- und Ausland durch das Gebäude geführt, in dem die politischen Entscheidungen des demokratischen Deutschlands getroffen werden.

Ein Tisch mit Aggregat

Die Besucher*innen des Reichstags betreten das Gebäude meist durch den imposanten Haupteingang über dem die Worte „Dem Deutschen Volke“ prangen. Von dort aus geht es in einen Eingangsbereich, eine Empfangshalle in der die Besucher*innen sogleich einen Vorgeschmack von der Kunstsammlung im Innern des Gebäudes bekommen. Von diesem Eingangsbereich aus kann auch schon ein erster Blick vom Plenarsaal des Deutschen Bundestages erhascht werden. Wird der Eingangsbereich passiert, folgt ein langer Gang, an dessen Seiten Kunstwerke aufgereiht sind. Vor einem dieser Kunstwerke versammelten sich die Teilnehmer*innen der Kunst- und Architekturführung und rätselten über dessen Bedeutung. Eine eigentlich eher unscheinbare Plastik ist der sterile Tisch mit einem Quader darauf, mit dem zwei Kugeln verbunden sind. Das Werk von Joseph Beuys, das als Leihgabe im Deutschen Bundestag ausgestellt ist, bietet ein breites Interpretationsspektrum, besonders da auf der Beschreibungstafel die tatsächliche Bedeutung des Kunstwerkes nicht mit aufgeführt ist. Die Gegenstände und das Material, aus dem diese bestehen, gehören zum alltäglichen Leben, es sind „arme“ Materialien, die lange Zeit in den Augen vieler nicht kunstwürdig waren. Das Werk soll den Energiefluss symbolisieren, die Spannung aus der sich das Leben speist und die Zivilisation erst möglich wurde. Es steht für Verbundenheit, so wie auch die Zivilisation untereinander und die Politik mit der Zivilisation verbunden sind.

Hammelsprung

Direkt gegenüber der Eingangshalle befindet sich der Eingang zu dem Plenarsaal. Durch drei direkt nebeneinander liegende Türen können die Abgeordneten den Saal betreten. Für Besucher*innen ist der Plenarsaal bis auf die höher gelegten Besucher*innentribünen unzugänglich. Über der mittleren Tür steht das Wort „ja“ geschrieben, während über der linken und der rechten Tür die Worte „Enthaltung“ und „nein“ zu lesen sind. Diese Türen werden normalerweise als gewöhnliche Zugangstüren verwendet, doch in seltenen Fällen, wenn es bei Abstimmungen zu einem sogenannten Hammelsprung kommt, nutzen die Abgeordneten diese Türen um ihr Stimmverhalten in eindeutiger Form zu zeigen.

Abstimmungen erfolgen auf unterschiedliche Weise: Bei der ersten Lesung findet gar keine Abstimmung statt, bei den 2./3. Lesungen erfolgen die Voten erkennbar im Plenum per Handzeichen. Bei besonders bedeutsamen oder besonders strittigen Entscheidungen wird jedoch namentlich abgestimmt, d.h. per Stimmkarte. Dabei stehen die roten Karten für „nein“, die blauen für „ja“ und die weißen für „Enthaltung“. Geheime Abstimmungen finden grundsätzlich nur bei Personalentscheidungen statt. Bei Schlussabstimmungen über Gesetze zeigen die Abgeordneten ihr Votum durch Aufstehen oder Sitzenbleiben. Ist das Ergebnis einer solchen Schlussabstimmung der Bundestagspräsident*in und den beiden Schriftführer*innen unklar, wird der Hammelsprung vollzogen. Dabei begeben sich alle Abgeordneten vor den Plenarsaal. Sie betreten diesen nach einiger Zeit wieder durch eine der drei Türen, um so ihr Stimmverhalten zum Ausdruck zu bringen. An jeder Tür stehen zwei Schriftführer*innen, die die Abgeordneten beim Durchschreiten der jeweiligen Türen laut zählen. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Hammelsprung-Entscheidung zum Betreuungsgeld, durch die wir als damalige Opposition, der Regierung eine Abstimmungsniederlage beigebracht haben. Die Abstimmung zu diesem Punkt wurde um mehrere Monate verzögert.

Leben über alles

Nun von der Politik wieder zurück zur Kunst, obwohl auch die Kunst im Bundestag nicht unpolitisch ist. Im Reichstag befinden sich unter anderem Werke von Künstler*innen aus Deutschland und aus den Staaten der vier ehemaligen Alliierten. So befindet sich im Clubraum des Reichstags - dem einzigen Raum im ganzen Reichstagsgebäude, in dem das Rauchen erlaubt ist -, ein aus 115 Einzelbildern bestehendes Kunstwerk des russischen Künstlers Grisha Bruskin. Jede der sich auf den Einzelbildern befindlichen Personen unterscheidet sich von einander und doch folgen sie alle demselben Schema. Alle 115 Personen egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung, Soldat*in oder Wissenschaftler*in, steht vor dem gleichen Hintergrund. Die Personen sind allesamt in weißer Farbe gemalt, womit sich die Attribute, die jeder Mensch in den Händen hält mit ihrer farbigen Gestaltung deutlich von den Personen, unter denen sich unter anderem auch Stalin und Lenin wiederfinden, abheben. Erst durch diese Attribute, die bei allen unterschiedlich ist, werden die Menschen charakterisiert, wird ihnen eine Identität verliehen. Jede dieser Personen erzählt auf diese Weise ihre ganz eigene Geschichte. Die Einzelbilder reihen sich in fünf über einander liegenden Zeilen aneinander und sind in drei Abschnitte unterteilt, die zusammen eine Einheit bilden. Der Name des Werkes „Leben über alles“ spielt auf die erste Strophe des „Lieds der Deutschen“, auch „Deutschlandlied“ genannt an.

Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Politik

An die Kunst- und Architekturführung anschließend, ging es für Interessierte noch in den SPD-Fraktionssaal auf der im dritten Stock angesiedelten Fraktionsebene. Hier berichtete ich von meiner politischen Arbeit im Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg und im Deutschen Bundestag und stellte mich den Fragen der Bürger*innen.

Dieses Mal war mir der Bericht „Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen: ein demokratisches Anliegen“ besonders wichtig. Dieser ist am 10. März vom Standing Committee der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angenommen worden. Viele Fragen bezogen sich auf aktuelle politische Debatten, bezogen sich auf Fragen zum Gesundheitsbereich und zur Pflege.

Interessierte konnten nach dem Gespräch noch auf die Reichstagskuppel.