40 Prozent der Frauen in Deutschland haben seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Das hat schon 2004 eine repräsentative Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Thema Gewalt gegen Frauen ergeben. Der überwiegende Teil führt zu keiner Strafanzeige - die Ausgestaltung des deutschen Sexualstrafrechts ist also dringend reformbedürftig. Der „Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“ (Drs. 18/8210) der Bundesregierung ist ein erster Schritt - reicht aber nicht aus, um das Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung in der Lebenswirklichkeit der Frauen in Deutschland zu verankern und Tätern eine gerechte Strafe zuzuführen. Dies muss sich ändern.
Sexuelle Gewalt als Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern
Sexualisierte Gewalt ist Ausdruck von Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Präambel der Istanbul-Konvention erkennt dies: „die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern [ist] ein wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen [, da] Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist“. Wir brauchen eine Geschlechterdemokratie, brauchen Augenhöhe in allen Lebensbereichen zwischen den Geschlechtern. Außerdem: Nein muss endlich auch Nein bedeuten – nur so wird das Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung auch sexuelle Selbstbestimmung sein.
Meine Motive zur Organisation einer Europarats-Sitzung im Deutschen Bundestag
Seit 2014 bin ich Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und hier im Ausschuss Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung aktiv. Für Deutschland bin ich die Kampagnenbeauftragte im parlamentarischen Netzwerk „Frauen frei von Gewalt”. In diesem Netzwerk engagieren sich Mitglieder der parlamentarischen Delegationen der Mitglied- und Beobachterstaaten der Parlamentarischen Versammlung sowie den Delegationen der Partner für Demokratie gegen Gewalt gegen Frauen. Als langjährige Frauenpolitikerin und nun noch verstärkt aufgrund dieser Funktionen ist mir die Ratifizierung des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, kurz Istanbul-Konvention, ein gewichtiges Anliegen. Die Istanbul-Konvention schafft als völkerrechtlicher Vertrag in Europa verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. Gewalt gegen Frauen soll umfassend verhütet, bekämpft und bestraft werden. Dieses Übereinkommen stellt somit einen Meilenstein in der Bekämpfung aller Arten von Gewalt gegen Frauen dar. Die Konvention wurde von dem 2005 gegründeten parlamentarischen Netzwerk des Europarats „Frauen frei von Gewalt“ - einem „Instrument der Durchschlagskraft“ - angestoßen.
Deutschland hat das Übereinkommen am Tag der Verabschiedung gezeichnet und somit den Willen bekundet, dieses auch zu ratifizieren. Die Istanbul-Konvention ist mittlerweile mehr als „nur“ ein politisches Dokument: Sie ist seit dem 1. August 2014 in Kraft - aber noch nicht in Deutschland, da unsere Gesetzeslage dazu noch nicht ausreicht. Mit der Novellierung des Sexualstrafrechts gemäß der Devise „Nein heißt Nein“ können wir aber einen Haupthinderungsgrund für die Ratifizierungsmöglichkeit beseitigen.
Um den „Druck“ in der bundesweit - insbesondere nach den Vorfällen in Köln und anderen Städten in der Silvesternacht 2015/16 - geführten Debatte zu erhöhen, habe ich am 12. Mai 2016 zu einer gemeinsamen Konferenz die Mitglieder des parlamentarischen Netzwerks „Frauen frei von Gewalt“ und meine KollegInnen im Ausschuss Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in den Deutschen Bundestag eingeladen. Dem Europarat gehören ParlamentarierInnen aus 47 Mitgliedsstaaten mit einer Bevölkerung von insgesamt über 800 Millionen Menschen sowie einige Staaten, die als „Partner der Demokratie“ an der gemeinsamen Arbeit teilnehmen, an.
Ich bedanke mich bei allen Aktiven aus dem Deutschen Bundestag als auch aus dem Europarat, die diese Tagung ermöglicht haben. Ich danke auch den Mitgliedern meines Teams sehr für die profunde Unterstützung, danke den DolmetscherInnen, die die Verdolmetschung ins Arabische, Deutsche, Englische und Französische gewährleistet haben.
Ich freue mich, dass die Veranstaltung im ganzen online nachzuschauen ist: Die ersten Stunden wurden im Parlamentsfernsehen ausgestrahlt und können in der Mediathek aufgerufen werden. Der übrige Teil, aufgeteilt in einen ersten und zweiten Teil, sind auf meinem Facebook-Account nachzuschauen.
Konferenzablauf
Das Programm hat viele nationale und internationale Herausforderungen aufgegriffen. Nach dem Eröffnungsteil fand im 1. Sitzungsblock eine Analyse zu „Deutschland auf dem Weg zur Ratifizierung zur Istanbul-Konvention“ statt. Anschließend fand eine Darstellung der „Nationalen Perspektiven für die Angleichung der Gesetzgebung an die Istanbul-Konvention“ in anderen Mitgliedsstaaten des Europarates sowie eine intensive Debatte zu „Empfehlenswerten Verfahren für die Gleichstellung der Geschlechter“ im 3. Sitzungsblock statt.
Für den Besuch einer Flüchtlingsunterkunft für Frauen bzw. der Notunterkunft Flughafen Tempelhof teilte sich die Gruppe, um dann wieder gemeinsam an einer wunderbaren Schifffahrt durch Berlin teilzunehmen. Am Freitag, den 13. Mai, besuchten einige der TeilnehmerInnen auch noch das in Schöneberg ansässige Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte Frauen LARA sowie im Anschluss die Gewaltschutzambulanz der Charité - Universitätsmedizin Berlin.
Eröffnungsteil
Die Vorsitzende des Unterausschusses Gleichstellung von Mann und Frau der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Maria Edera Spadoni (Italien), eröffnete die Sitzung und moderierte den ersten Teil der Veranstaltung. Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, sprach über die Meilensteine des Kampfes in Deutschland zur Kriminalisierung sexualisierter Gewalt. Sie verwies darauf, dass die Istanbul-Konvention schon 2011 beschlossen wurde. In der Konvention werden Maßnahmen zur Bekämpfung jeglicher Art von sexualisierter Gewalt, von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, Zwangsheirat, sexuelle Belästigung und weibliche Genitalverstümmelung festgeschrieben. Dabei steht im Mittelpunkt: Frauenrechte sind Menschenrechte und damit nicht verhandelbar. Ihre Verletzung unbedingt strafbar.
In meinen Ausführungen habe ich auf die Stolpersteine und gravierenden Herausforderungen zur Sexualstrafrechtsdebatte verwiesen. Sahiba Gafarova, Generalberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, ging in ihrer Rede auf einzelne Artikel der Istanbul-Konvention spezifischer ein.
Die Istanbul-Konvention: Deutschland auf dem Weg zur Ratifizierung
Über die geplante juristische Umsetzung im momentanen Regierungsentwurf, als auch über die Dimensionen und Problematiken, die Nicht-Regierungsorganisationen an der geplanten juristischen Umsetzung im Bezug auf die Istanbul-Konvention sehen, gab es hochkarätige Impulsreferate. Über die deutsche Gesetzgebung im Hinblick auf Gewalt gegen Frauen und die zu bewältigenden Herausforderungen gab Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, einen Überblick. Über die Istanbul-Konvention und ihren Mehrwert referierte Rosa Logar, Vizepräsidentin der ExpertInnengruppe für Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (GREVIO) beim Europarat. Dr. Petra Follmar-Otto, Leiterin des Referats Menschenrechtspolitik Inland/Europa vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR), beschrieb die nationale Umsetzung der Istanbul-Konvention durch gesetzliche und andere Maßnahmen und die Rolle der nationalen Menschenrechtsorganisationen.
Nationale Perspektiven für die Angleichung der Gesetzgebung an die Istanbul-Konvention
Wie machen es andere Staaten, um die Istanbul-Konvention ratifizieren zu können? Über den Weg, die damit verbundenen Herausforderungen und den aktuellen Sachstand informierten uns meine parlamentarischen Kolleginnen Frau Béatrice Fresko-Rolfo (Monaco), Frau Nina Kasimati (Griechenland) und Herr Manuel Tornare (Schweiz).
Empfehlenswerte Verfahren für die Gleichstellung der Geschlechter
Worauf beruht die ungleiche Anerkennung der Geschlechterrollen? Und vor allem: Was ist zu tun, damit eine Gleichstellung der Geschlechter in den Mitgliedsstaaten des Europarates individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit wird. Wie ist Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen? Welche Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung und zur Bekämpfung von sexueller und häuslicher Gewalt unternommen werden und was auch noch zu tun ist, darüber sprachen für Deutschland Elke Ferner, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Hannelore Buls, Vorsitzende des Deutschen Frauenrats.
Françoise Hetto-Gaasch (Luxemburg) und Josette Durrieu (Frankreich) beschrieben Aspekte ihrer jeweiligen nationalen Gleichstellungspolitik. Besonders gefreut hat mich die Teilnahme von Nezha El-Ouafi, Mitglied des Marokkanischen Repräsentantenhauses, und von Reem Abu Dalbouh, Mitglied des Jordanischen Repräsentantenhauses. Dank ihrer Beiträge flossen auch Erfahrungen und Vorhaben zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt aus nicht-europäischen Ländern mit in die Diskussion ein.
Sexuelle Gewalt - erst Tabu, nun eine gesellschaftspolitische Herausforderung
Sexualisierte Gewalt ist kein neues und auch kein importiertes Problem - anders als in Medienberichten zu den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln vielfach deutlich gemacht wurde. Laut einer Studie von 2014 von der European Agency for Fundamental Human Rights aus 2014 hat jede 3. Frau seit dem Alter von 15 Jahren eine Form körperlicher und oder sexuellen Übergriff erlitten - so die Dimension der Gewalt im europäischen Kontext. Die deutsche Situation weist keinen wesentlich besseren Zustand vor: Jede 7. Frau erlebt in Deutschland schwere sexualisierte Gewalt laut einer Studie der Organisation Frauen gegen Gewalt e.V.. Nur ein prozentual kleiner Anteil dieser Frauen zeigt die Tat an - und ein nur verschwindend geringer Teil der angeklagten Täter wird tatsächlich verurteilt. In Deutschland wurden Schritte hin zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt unternommen: Nachdem die SozialdemokratInnen 1972 den Antrag gestellt haben, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, hat es noch 25 Jahre gedauert, bis der Deutsche Bundestag dieses 1997 endlich beschlossen hat. Angesichts der hohen Zahlen der Gewalt gegen Frauen und dem unbedingten Druck zur Umsetzung der Istanbul-Konvention besteht dringender Handlungsbedarf.
Auf europäischer Ebene fördert der Europarat seit den 1990er Jahren aktiv den Schutz von Frauen geschlechtsspezifischer Art, was 2005 in einer Empfehlung über den Schutz von Frauen vor Gewalt und in eine europaweite Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, einschließlich häuslicher Gewalt, mündete.
Eine breite Diskussion politischer und gesellschaftlicher Art - endlich!
„In Deutschland gibt es oft die Attitüde, dass wir schon einen hohen menschenrechtlichen Standard haben und darum internationale Verträge eher für andere Staaten relevant sind“, legt Frau Dr. Petra Follmar-Otto vom DIMR dar. Mit dieser „Attitüde“ wurde in Deutschland schon „vor Köln“ gebrochen. Die massive gesellschaftliche und politische Diskussion zur Verschärfung des Sexualstrafrechts hat „nach Köln“ allerdings deutlich an Wucht zugenommen. Gerade die Politik - Regierung, Ministerien, Parlament - setzt sich mit der Verschärfung des Sexualstrafrechts auseinander - allen voran die weiblichen ParlamentarierInnen. Gerade die SozialdemokratInnen und die VertreterInnen der Oppositionsfraktionen tun dieses mit dem Bewusstsein, dass es einen großen Befreiungsschlag in der deutschen Rechtsprechung bedarf. Maßnahmen zum Schutz und Unterstützung der Opfer sexualisierter Gewalt und Institutionen zum Monitoring sind sehr unterstützend, sie reichen aber nicht aus. Es muss mehr passieren, als nur Schutzlücken im Strafrecht schließen, so Follmar-Otto.
Was sieht die Istanbul-Konvention vor? Wie ist die Situation momentan und was ändert sich?
Die Istanbul-Konvention bekommt große Anerkennung: „einzigartig, präzedenzlos, innovativ, umfassend, weitreichend, ein Meilenstein, Goldstandard, ein Licht in der Dunkelheit“ - so wird sie bezeichnet.
Rechtzeitig zum Konferenztag wurde die Istanbul-Konvention fünf Jahre alt: Am 11. Mai 2011 beschloss der Europarat diesen völkerrechtlichen Vertrag. Seit 2011 haben 41 Staaten die Konvention unterzeichnet, aktuell haben sie 21 Staaten ratifiziert, also völkerrechtlich in Kraft gesetzt. Deutschland gehört zwar zu den UnterzeichnerInnen, hat den Vertrag aber noch nicht ratifiziert. Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, erläuterte, dass Deutschland nach nationalem Gesetz die Konvention erst dann ratifizieren darf, wenn die dazu notwendigen rechtlichen Erfordernisse vollständig in nationales Recht überführt worden sind. Wichtige Maßnahmen sind auf dem Weg zur Ratifizierung allerdings auch schon passiert: So wurde z.B. Art. 24 zur landesweiten Telefonberatung zur Verabschiedung des Hilfetelefongesetzes im März 2013 umgesetzt. In Bezug auf die Anforderung des Art. 11 zur Datensammlung und Forschung werden seit 2011 die Daten in der polizeilichen Kriminalstatistik wesentlich ausführlicher erfasst und dokumentiert.
Follmar-Otto wies darauf hin, dass diese Überführungssystematik in nationales Recht vor der Ratifizierung kein Nachteil darstellen muss: Mithilfe des Drucks der Istanbul-Konvention sei eine breite öffentliche Diskussion angestoßen worden, in dessen Mittelpunkt die Verschärfung des Sexualstrafrechts steht.
Welche Neuerungen sind im Sexualstrafrecht vorgesehen? Nur ein Paradigmenwechsel ist genug!
Gewalt gegen Frauen ist laut Istanbul-Konvention umfassend zu verhüten, zu bekämpfen und zu bestrafen. Dringendster Bedarf in Deutschland ist eine Nachbesserung des Strafrechts. Obwohl dies nur einen Aspekt der Istanbul-Konvention darstellt, dominiert dieser nach den Vorfällen in Köln die Debatte am stärksten.
In Deutschland existieren im Strafrecht noch erhebliche Schutzlücken im Bereich sexualisierte und häusliche Gewalt. Wie genau diese aussehen, beschrieb Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz. Er stellte den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf zum Sexualstrafrecht vor und beschrieb auch detailliert, weshalb sexualisierte Gewalt in Deutschland stattfinden kann, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Der Hauptgrund: die gesetzlichen Grundlagen für eine Verurteilung sind noch nicht gegeben ist.
Die Istanbul-Konvention sieht in Art. 36 vor, dass nicht einverständliche sexuelle Handlungen jeglicher Art unter Strafe zu stellen sind. Dabei steht das Einverständnis im Vordergrund. Es gilt das Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung.
Dieses ist aber (noch) nicht in deutschem Strafrecht verankert. Die Strafbarkeit hängt noch von der Wehrhaftigkeit des Opfers ab. Der vorliegende Regierungsentwurf ändert an diesem System nichts: das Rechtsgut sexuelle Selbstbestimmung ist nicht von sich aus geschützt, sondern immer noch braucht es eine nachgewiesene körperliche Wehrhaftigkeit des Opfers. Zwar sollen im Gesetzesentwurf weitere Straftatbestände werden, am Prinzip des wehrhaften Widerstands ändert sich aber nichts - ein nicht länger hinnehmbarer Tatbestand.
Für viele Frauen- und RechtspolitikerInnen ist nur die „Nein heißt Nein“-Lösung akzeptabel. Das Verhalten des Täters entscheidet über die Strafbarkeit einer sexuellen Handlung - nicht die des Opfers. Es braucht den echten Paradigmenwechsel wie ihn die Istanbul-Konvention vorsieht!
Dr. Petra Follmar-Otto verwies auf einen besonders kritischen Punkt, der unbedingt verwirklicht werden müsse: Auch Frauen mit Behinderung müsse ein umfassender Schutz zukommen. Menschen mit Behinderungen gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen.
Umfassende und koordinierte politische Maßnahmen und Monitoring
Die Istanbul-Konvention sieht auch Verbesserungen in der Zusammenarbeit aller Sektoren im politischen Bereich, sieht eine intensive Zusammenarbeit und Koordinierung aller staatlichen und nicht-staatlicher Stellen vor. Um sexuelle Gewalt zu bekämpfen, braucht es eine breite Aufstellung und vieler Organisationen. Ich habe sehr gefreut, dass viele Verbands- und VereinsvertreterInnen als BesucherInnen an dieser Konferenz teilnahmen, z.B. vom Nachbarschaftsheim Schöneberg, vom LandesFrauenRat Berlin, vom LARA Krisen- und Beratungszentrum, aus der Frauenhauskoordinierung, vom ausnahmslos-Bündnis, aber auch von der Polizeidirektion des Stabsbereichs zur Prävention und Öffentlichkeitsarbeit Koordination häusliche Gewalt.
Vom Gesetz zur Lebenswirklichkeit
Eine immer wieder gestellte Frage bezog sich auf den Übergang vom „geschriebenen Gesetz in die Alltagswirklichkeit“. In Marokko gäbe es durchaus Schwierigkeiten bei der „tatsächlichen Wirklichkeitsentfaltung“ eines Gesetzes, beschrieb Frau El-Ouafi und fragte danach, wie dieses denn in Deutschland geregelt sei. Staatssekretär Lange verwies auf die hierbei entscheidende Rolle einer unabhängigen Justiz. Ausschlaggebend sei aber auch das Vertrauen in die Institutionen, in die Gerichte und auch die Polizei. An diese würden sich die BürgerInnen in der Regel zuerst wenden. All diese Stellen müssen für den Umgang mit Menschen sexueller und häuslicher Gewalt sensibilisiert werden. Entscheidend sei weiterhin, die Schwelle sich an diese Stellen zu wenden, niedrig zu halten, damit auch tatsächlich eine Anklage erfolge. Es sei auch notwendig, Menschen darüber zu informieren, wo sie Beratung und Hilfe bekommen können.
Um ein Bild über entsprechende solcher Einrichtungen in Berlin zu gewinnen, besuchte die Delegation zudem zwei Geflüchteteneinrichtungen sowie die Gewaltschutzambulanz der Charité und das LARA Krisen- und Beratungszentrung. Bei letzteren stehen die Frauen im Mittelpunkt - auf ihre Entscheidung kommt es an. Hierzu erhalten sie allerdings psychische und rechtliche Unterstützung.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Neben der Koordinierung weist die Istanbul-Konvention ausdrücklich auf ein Monitoring der gesetzlich festgelegten Maßnahmen, also auf einen Überwachungsmechanismus, hin. Auf der Ebene des Europarats besteht dieser aus zwei Gremien, dem GREVIO und einem Ausschuss der Vertragsparteien.
Auf nationaler Ebene spricht die Istanbul-Konvention den ParlamentarierInnen eine besonders verantwortungsvolle Rolle zu, so Frau Gafarova. Die ParlamentarierInnen seien für die Überwachung der eingesetzten politischen Maßnahmen verantwortlich. Dafür bedürfe es einer entsprechenden nationalen Gesetzgebung als auch der Sicherstellung ausreichender Ressourcen zum Schutz von Opfern sexueller Gewalt. Dem Schutzgedanken für Opfer von sexueller Gewalt würden aber auch Veranstaltung wie diese dienen. Der Austausch mit ParlamentarierInnen anderer Staaten sei ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung eines echten Schutzes.
Wie steht's um die Istanbul-Konvention in anderen Ländern. Was können wir voneinander lernen?
Die wirtschaftliche Lage eines Landes entscheidet sehr wesentlich über die Lebenswirklichkeit von Frauen, wie Nina Kasimati von der griechischen Syriza-Partei berichtete. Griechenland befände sich beispielsweise gerade in einer doppelten Krise. Die Wirtschaftskrise und die damit verbundenen staatlichen Kürzungen wirkten sich sehr negativ auf die Situation von Frauen aus. Als Beispiel nannte sie den Anstieg ungewollter Schwangerschaften bei Frauen.
Hingegen ist in Monaco der Fortschritt der Istanbul-Konvention schon spürbar: der Tatbestand der sexuellen Belästigung ist bereits vollständig ins Strafrecht aufgenommen worden. Monaco ist neben Österreich eines der Länder, in denen GREVIO dieses Jahr Monitoring-Studien zur Umsetzung der Istanbul-Konvention durchführt.
Datenerfassung und Forschung
Um Koordinierung und Monitoring zu gewährleisten, braucht es verlässlicher Daten. Zu diesem Zweck sieht die Konvention im Artikel 10 und 11 vor, dass die Datenerfassung und Forschung im Bereich sexualisierter Gewalt zu verbessern ist. Vorgesehen ist die Einrichtung einer nationalen Koordinierungsstelle, die die Koordinierung, Umsetzung, Beobachtung und Bewertung der politischen Maßnahmen vornehmen soll. Frau Follmar-Otto weist darauf hin, dass Deutschland noch dringend eine solche Stelle einrichten müsse. Zwar existierten einzelne Koordinationsgremien, z. B. die Bund-Länder-AG häusliche Gewalt, die aber jeweils nur einzelne Bereich sexualisierter Gewalt umfassten.
Mit der 2011 novellierten Kriminalstatistik seien Verbesserungen in der Datenerhebung und damit Forschung ermöglicht worden. Es fehlen aber beispielsweise noch Daten zur Prävalenz sowie Daten zu gesundheitlichen Folgewirkungen geschlechtsspezifischer Gewalt. Nicht bekannt seien Daten zur Verfügbarkeit und Inanspruchnahme der Opferrechte. All diese Daten sind aber wichtig, um eine zielgerichtet Opfern sexualisierter Gewalt die Hilfe zukommen zu lassen, die sie in ihrer Situation benötigen.