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Flüchtlinge in der Nachbarschaft: „Was zählt ist die Begegnung“

Unweit meines Wahlkreisbüros in der Tempelhofer Friedrich-Wilhelm-Straße 86 existiert seit Februar dieses Jahres in der Colditzstraße eine neue Einrichtung zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchende. Ich heiße meine neuen NachbarInnen willkommen. 
Weltweit sind über 50 Millionen Menschen auf der Flucht und suchen für sich und ihre Familien Zuflucht, suchen Sicherheit und Schutz, suchen Perspektiven für ihr Leben. Aufgrund der zahlreichen Bürgerkriege, Diktaturen und Verfolgungen in vielen Ländern wird für ganz Deutschland die große Herausforderung ihrer Aufnahme bestehen bleiben. Dies gilt auch für Berlin. Die Stadt nimmt nach dem „Königsteiner Schlüssel“ 5 Prozent aller ins Land kommenden Asylsuchenden auf. Für 2015 wird prognostiziert, dass circa 20.000 Menschen hier einen Asyl-Erstantrag stellen werden. Rund zwei Drittel davon werden Menschen in erwerbsfähigem Alter sein, viele von ihnen sind aber auch traumatisiert und brauchen erst einmal Hilfe und Unterstützung.



„Auf ein Wort, Frau  Rawert“
Seit vielen Jahren führe ich die Veranstaltungsreihe „Auf ein Wort, Frau  Rawert“ durch. Zu diesen „Sommerfrühstücken“ habe ich bislang thematisch bezogen AkteurInnen im Bezirk eingeladen, um sich besser kennenzulernen und zu vernetzen. Ich will damit erfahren, „wo der Schuh drückt“, will wissen, was ich als Bundespolitikerin für die Vereine, Organisationen und Initiativen vor Ort in Tempelhof-Schöneberg tun kann. Die Eröffnung der Flüchtlingseinrichtung hat mich dazu gebracht, meinen Einladungsmodus zu verändern: Für den 29. April 2015 habe ich zahlreiche AkteurInnen - Nachbarschafts-, Kinder- und Jugend-, Familien- und SeniorInneneinrichtungen; Internationale Vereine und Verbände; kirchliche Organisationen; Sportvereine, Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Suchtarbeit sowie aus der SPD, der Bezirksverordnetenversammlung von Tempelhof-Schöneberg und dem Berliner Abgeordnetenhaus sowie von der Polizei, etc. -  im Umkreis der Einrichtung als Nachbarn eingeladen. 

Mein besonderer Dank gilt der Flüchtlingserstunterkunft selbst. Hier wurde uns für das Frühstück ein Raum zur Verfügung gestellt. Die erste Barriere ist überwunden: Die Einrichtung wurde von Nachbarinnen und Nachbarn betreten, uns wurde ein kleiner Einblick in das Wohnumfeld und in das Alltagsleben der Flüchtlinge ermöglicht.
Die Resonanz auf meine Einladung war enorm. So konnte ich mehr als 50 Personen begrüßen. Wir haben über die Herausforderungen für ein gutes Miteinander in unserer gemeinsamen Nachbarschaft und im Bezirk diskutiert.
   
   

Wenn bis dahin Fremde zu NachbarInnen werden
Schon in der vom Bezirksamt durchgeführten AnwohnerInnenveranstaltung in der Glaubenskirche in der Friedrich-Franz-Straße am 6. März 2015 wurde deutlich, dass es viele Menschen gibt, die zu einem funktionierendem Willkommen beitragen wollen, die Hilfe und Unterstützung anbieten.
Mein Wunsch war, mehr zu erfahren von den Wünschen und Interessen der Flüchtlinge, mehr zu erfahren von den schon ansässigen NachbarInnen, dazu beizutragen, dass direkte Begegnung und ein Austausch stattfindet. Zu einem gelingenden Willkommen gehört gerade am Anfang das intensive Zuhören. 

„Nichts über uns ohne uns“
Ich danke Frau Rim Farha, Heimleiterin im Erstaufnahmeheim, dafür, dass wir mit SozialarbeiterInnen als auch mit VertreterInnen der Flüchtlinge selbst reden konnten. Sie konnten uns so nahe bringen, „wo der Schuh drückt“ und was sie selbst sich von ihren NachbarInnen wünschen.
Niemand von uns von „draußen“ wäre auf einige der aktuellen drängenden Probleme gekommen. So berichtete Frau Fahra von Schwierigkeiten mit der Berliner Verwaltung: 
  • Da das Bürgeramt noch kaum über freie Termine verfüge, sei die Anmeldung der Flüchtlinge zeitraubend und problematisch. 
  • Zudem gibt es vielfache Probleme mit den notwendigen Fahrscheinen für den OVNP: So erhalten Flüchtlinge, denen Berlin als Aufnahmeort zugewiesen ist, zwar ein Bahnticket für die Fahrt nach Berlin - allerdings keines, um in Berlin zum Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) zu fahren, bei dem sie sich zwingend melden müssen. Bei Flüchtlingen, die bereits einen BerlinPass besitzen, umfasst die ausgestellte Gültigkeitsdauer häufig nicht die Zeitspanne bis zum nächsten Behördenbesuch. Um das Fahren ohne gültigen Fahrschein zu vermeiden, schlägt Frau Fahra vor, dass das Amt die Gültigkeit des BerlinPasses an den nächsten Vorsprechtermin anpasst. Auch ein unfreiwilliges Fahren ohne Fahrausweis führt zu einer Anzeige und Verurteilung wegen Erschleichen von Leistungen. Diese Anzeigen und Verurteilungen wirken sich negativ bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels aus.
Frank Zimmermann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus und als Wahlkreisabgeordneter beim Sommerfrühstück dabei, griff diese Problematiken sofort auf und wird im Abgeordnetenhaus mit seinen KollegInnen nach tragbaren Lösungen suchen.



Frau Fahra wünscht sich
  • das Eingehen von Patenschaften zwischen den alteingesessenen BerlinerInnen und ihren HeimbewohnerInnen. Dafür stehe das Heim offen. Sie freue sich über das deutlich werdende Nachbarschaftsengagement und möchte die Erstunterkunft gern mit vielen AkteurInnen in der Nachbarschaft und im Bezirk vernetzen.
Ein junger Mann machte auf die Ungleichbehandlung in den Ämtern aufmerksam. Er ist zusammen mit seinem Bruder als Bootsflüchtling aus Syrien über das Mittelmeer nach Deutschland gekommen und wartet - im Gegensatz zu seinem Bruder - seit Monaten auf seine Anerkennung. Auch dieses wird Frank Zimmermann (SPD) im Abgeordnetenhaus erörtern, denn eine solche Ungleichbehandlung sei nicht nachvollziehbar.

Eine Mutter berichtete, dass viele BewohnerInnen, insbesondere die Kinder, Probleme mit dem durch eine Cateringfirma gebrachtem Essen haben. Da auf den Zimmern aus Brandschutzgründen weder Wasserkocher noch Herdplatten erlaubt seien, müsse sie ihren Kindern häufig nicht ausreichend warmes Essen geben. Außerdem würde Obst fehlen. Erfreulicherweise haben sich umgehend sowohl die VertreterInnen von Leib und Seele e.V. als auch das Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der Ufa-Fabrik (NUZS) angeboten, hier Abhilfe zu schaffen und Obst zu liefern.

Ich habe mich gefreut, dass auch die Polizei durch den hiesigen Dienstgruppenleiter und den zuständigen Kontaktbereichsbeamten vor Ort vertreten war. Gespräche im Anschluss an die Veranstaltung machten deutlich, dass auch hier noch Handlungsbedarf existiert. So hätten einige der Kinder Angst vor diesen Uniform tragenden Menschen gehabt, da sie die Polizei in ihrem Herkunftsland keineswegs als „Freund und Helfer“ kennengelernt haben. 

   

Angebote aus der Nachbarschaft: Sozialer Kontakt und praktische Hilfe
Das Interesse an ehrenamtlichem Engagement für die Flüchtlinge ist sehr groß und vielfältig. Auch viele der TeilnehmerInnen kannten sich untereinander nicht - hier nun eine gute Gelegenheit sich auch als schon länger in der Nachbarschaft Lebende untereinander besser kennenzulernen. Ich bin glücklich über meine Nachbarschaft, in der sich das bunte und vielfältige Leben in Tempelhof-Schöneberg wiederfindet. 

Schon in der Vorstellungsrunde erläuterten die Anwesenden eigene erste Ideen zum bürgerschaftlichen Engagement: 
  • Die VertreterInnen von Outreach - Mobile Jugendarbeit Berlin boten an, die in der Einrichtung lebenden Kinder und Jugendlichen in ihre Freizeitangebote einzubinden. 
  • Eine Dolmetscherin, die im Flüchtlingsheim in Köpenick das Projekt „Garten der Hoffnung“ begleitet, würde auch gern in Tempelhof gemeinsam mit Flüchtlingen gärtnern. 
  • Verschiedene VertreterInnen von Kirchengemeinden möchten unterstützend tätig werden, sei es mit Beschäftigungsangeboten oder auch mit Hausaufgabenhilfe oder Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache. Dabei waren immer wieder besonders die Kinder im Blick.
  • Die Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Berlin-Tempelhof ist bereits in der Flüchtlingsberatung tätig und will auch der Erstaufnahmeunterkunft in der Colditzstraße für Beratungsangebote zur Verfügung stehen.
  • Die Vertreter des naheliegenden Vivantes Wenckebach-Klinikum haben Unterstützung bei der medizinischen Versorgung zugesagt. Sie wollen klären wie die BewohnerInnen einen guten Zugang zum medizinischen Angebot bekommen können.
  • Der Sportverein Germania 1888 bietet an, dass die Flüchtlinge mit den Vereinsmitgliedern Sport machen kann. 
  • Das Werkhaus Anti-Rost möchte gerne einen Handwerkerdienst mit anerkannten Flüchtlingen aufbauen.  
  • Das Nachbarschaftsheim Schöneberg und das Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der Ufa-Fabrik (NUZS) stehen für Kooperationen und Projekte bereit. Zudem wird das NUSZ ein Netzwerk zur Beschäftigung von noch nicht anerkannten Flüchtlingen begründen. Das NUZS, welches zusammen mit dem Träger Harmonie e.V.  Integrationslotsinnen beschäftigt, will diese auch der Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung stellen. Sie bemühen sich derzeit darum, weitere Integrationslotsinnen beschäftigen zu können.


Auch zivilgesellschaftliches Engagement braucht Strukturen
Sämtliche Erfahrungen zeigen, dass auch ehrenamtliches Engagement Strukturen braucht, sei es im Rahmen von Selbstorganisation, sei es durch bezirkliche Koordination. Ehrenamtliche bringen eine hohe Motivation mit. Diese darf nicht enttäuscht werden. 

Aus diesem Grunde war auch die Integrationsbeauftragte Gabriele Gün Tank anwesend. Sie stellte einige der Überlegungen vor, wie das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg sicherstellen möchte, dass kein Engagement für Flüchtlinge wegbricht. Deutlich wurde, dass wir uns augenblicklich in einer Aufbauphase befinden. Vieles muss noch geschaffen werden.

Wir haben im Bezirk Tempelhof-Schöneberg derzeitig drei Flüchtlingseinrichtungen:
  • das Aufnahme- und Übergangswohnheim Marienfelde, welches vom Internationalen Bund betrieben wird
  • das Georg-Kriedte-Haus, ein Wohnheim für Flüchtlinge am Kirchhainer Damm (Lichtenrade), in Trägerschaft des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk
  • die Erstunterkunft in der Colditzstraße, Tempelhof (ein Antrag als Übergangswohnheim ist gestellt).
In vielen Vereinen und Verbänden und auch im Bezirksamt wird derzeit über Aktivitäten, Begegnungen, Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten nachsinniert: 
  • Seitens des Bezirksamtes wird es in Kürze einen Runden Tisch zur Flüchtlingsarbeit geben, der auch Hilfsangebote und Hilfebedarf koordiniert. 
  • Weiterhin werde gerade eine Website mit Informationen für die BürgerInnen aufgebaut. 
  • Schon jetzt können Unterstützungsangebote von BürgerInnen an das Ehrenamtsbüro Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg (Internet: http://www.berlin.de/ba-tempelhof-schoeneberg/ehrenamt/, Telefon: 90277-6051 / 6050; E-Mail: ehrenamtsbuero@ba-ts.berlin.de) gemeldet werden. Diese zentrale Service- und Beratungseinrichtung bietet allen zukünftig Engagierten eine erste Orientierung bei der Suche nach einem geeigneten Engagement. Gerne wird auch an eine passende Einrichtung entsprechend den Wünschen und Vorstellungen jeder/jedes Einzelnen vermittelt.   
   

Weitere Ideen und Anregungen zur Begegnung:

1. Ein Erzählcafé
Zumindest die Jüngeren von uns kennen Flucht und Vertreibung nicht aus eigenem Erleben. Deshalb habe ich vorgeschlagen, ein Erzählcafé ins Leben zu rufen, in dem einzelne Flüchtlinge über ihre Flucht, ihre Fluchtgründe, ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten. Die anwesenden BewohnerInnen sind hierzu durchaus bereit, würden dies auch sehr gern tun. Zusammen mit Frau Fahra wird überlegt werden, wie wir dieses umsetzen können.

2. Fest anlässlich des Fastenbrechens während des Zeitraums 17. Juli - 19. Juli 2015 
Gestellt wurde auch die Frage nach Religionsausübungsmöglichkeiten für muslimische BewohnerInnen. Hierzu hat es auch auf meine Anregung hin bereits vor einigen Wochen entsprechende Klärungsgespräche gegeben. Ein Kontakt u.a. mit der Sehitlik-Moschee besteht bereits. 
Im Hinblick auf den am 18. Juni beginnenden Ramadan regte Frau Tank ein - unter der Schirmfrau-/herrschaft aller vier Bundestagsabgeordneten im Bezirk Tempelhof-Schöneberg stehendes – in der Colditzstraße stattfindendes Fastenbrechen an. Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM), also die Verbände DITIB, VIKZ, Islamrat und Zentralrat zusammen haben sich für das Fastenbrechenfest gemeinsam auf den Zeitrahmen 17. Juli - 19. Juli 2015 verständigt.

3. Spenden
Die BerlinerInnen sind sehr spendenfreudig. Damit die Spenden auch eine Freude werden, wird Frau Fahra eine Liste erstellen mit Dingen, die gebraucht werden. Kinderkleidung wird ständig benötigt! Die Frage nach einem offiziellen Spendenkonto wird beim Runden Tisch am 11. Mai erörtert werden.  

4. Mechthild Rawert versprach
auch diejenigen, die an diesem Sommerfrühstück nicht teilnehmen konnten, über die Ergebnisse, Kooperationen und Handlungsmöglichkeiten zu informieren. Dieses könne durch das Wahlkreisbüro geleistet werden.
Ich danke für die rege Teilnahme und Diskussion.


P.S.
Nachträglich hinweisen möchte ich auf Vorhaben des Landes Berlin für Flüchtlinge in 2015. Noch in diesem Jahr sollen umgesetzt werden:  
  • „Erhöhung der Zahl der Integrationslotsinnen und -lotsen an Gemeinschaftsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen von elf auf 27 berlinweit,
  • Ausbau des Angebots des Landes für Deutschsprachkurse bei den Berliner Volkshochschulen für diejenigen, die von den Integrationskursen des Bundes ausgeschlossen sind,
  • schrittweise Einsetzung von zwölf Bildungsberaterinnen und -beratern, die die Geflüchteten in den Sprachkursen aufsuchen, sie über berufliche Möglichkeiten und Unterstützungsangebote informieren und sie gegebenenfalls zur vertiefenden Beratung an zuständige und entsprechend spezialisierte Stellen verweisen; dies sind zum Beispiel Arbeitsagenturen, Jobcenter und Anlaufstellen für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen,
  • muttersprachliche Unterstützung speziell zur beruflichen Orientierung und Integration von geflüchteten Frauen in den Arbeitsmarkt,
  • Einrichtung einer Anlaufstelle zur Beratung von Geflüchteten und Betrieben bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen zu allgemeinen Fragen der Ausbildung und Beschäftigung von Geflüchteten,
  • Finanzierung von zusätzlichen Plätzen im Rahmen des Programms „Ausbildung in Sicht“ zur Herstellung der Ausbildungsreife von geflüchteten Jugendlichen,
  • Ausweitung des Projekts „ARRIVO Berlin – Übungswerkstättenparkours“ (berufliche Qualifizierung im Rahmen von Übungswerkstätten und fachsprachliche Qualifizierung),
  • Einrichtung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen im Jahr 2015 im Rahmen des Berliner Ausbildungsplatzprogramms (BAPP) für unbegleitete minderjährige Geflüchtete.“
Aufgrund der jüngsten auf Initiative der SPD-Bundestagsfraktion stattgefundenen bundesrechtlichen Änderungen haben sich die rechtlichen Voraussetzungen für diese Vorhaben verbessert. Asylsuchende und Geduldete haben grundsätzlich jetzt einen nachrangigen Arbeitsmarktzugang bereits nach 15 Monaten und einen unbeschränkten Zugang nach vier Jahren Aufenthalt. Leider unterliegen aber nach wie vor viele Geflüchtete, die mit einer Aufenthaltsgestattung oder Duldung in Berlin leben, allerdings einem ausländerrechtlichen Beschäftigungsverbot.