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„Wir alle sind individuell. Und das muss sich auch in der Pflege widerspiegeln“

Die neuen Pflegestärkungsgesetze. Ein Gesprächsaustausch bei „Anders Altern“ in der Schwulenberatung Berlin am 2. Mai 2016

„Anders altern“ - ein schöner Ansatz, wie jemand auf meiner Facebook-Seite den Namen dieses Gesprächskreises der Schwulenberatung Berlin kommentierte. Wir alle werden anders alt werden. Die Individualisierung der Lebensstile gehört wie die Zunahme von Singlehaushalten zu den gesellschaftlichen Megatrends, die auch die Zukunft der Pflege prägen. Darauf nehmen wir mit den bereits verabschiedeten Pflegestärkungsgesetzen I und II auch Bezug.

Wir SozialdemokratInnen haben uns bei den Gesetzesberatungen und -verhandlungen sehr dafür eingesetzt, dass „Anders altern“ das Prinzip Vielfalt in den Blick nimmt. Vielfältig sind die unterschiedlichen krankheits- und behinderungsbedingten Bedürfnisse. Vielfältig sind aber auch die unterschiedlichen individuellen Lebenswelten, die sich unter anderem durch Geschlecht, mit oder ohne Migrationsbiographie und auch die sexuelle Orientierung bzw. Identität ausprägen. Pflege soll sich an den individuellen Lebenswelten orientieren - so der deutliche Wunsch, der in den vielen Fragen und Erfahrungsberichten in diesem Gespräch geäußert wurde.

Die Schwulenberatung Berlin macht sich zur Aufgabe, was das herkömmliche Gesundheits- und psychosoziale Versorgungssystem oft nicht leistet: Spezielle Beratung anzubieten, die die individuelle Lebenssituation älterer schwuler Männer in den Blick nimmt. Ich habe mich sehr über den sehr spannenden Austausch mit vielen wichtigen Impulsen gefreut.

Wie sieht der derzeitige Stand in der Pflege aus?

Zunächst habe ich die vielfältigen Aktivitäten in der Pflege dar: Das Pflegestärkungsgesetz I und II sind auf den Weg gebracht, das Pflegestärkungsgesetz III auf dem Gesetzgebungsweg. Ebenso verabschiedet sind das Familienpflegezeitgesetz, das Pflegezeitgesetz, das Krankenhausstrukturgesetz und das Hospiz- und Palliativgesetz. Das sins alles Gesetze, in denen die Ermöglichung einer guten Pflege eine große Rolle spielt.

Pflege gewinnt in einer Gesellschaft des längeren Lebens zu Recht an gesellschaftspolitischer Bedeutung. Nach Schätzungen wird die Anzahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis 2050 auf 4,4 Millionen Menschen ansteigen. Auch die Zahl der dementiell Erkrankten steigt - jährlich um rund 200.000 Menschen. Eine ungenügende Pflegeinfrastruktur vor Ort ist für Jede und Jeden von uns fatal: als pflegebedürftige Person, als pflegende/r Angehörige/r, als Pflegefachkraft.

Das Pflegestärkungsgesetz I, kurz PSG I, hat zahlreiche Leistungsverbesserungen auch für die häusliche Pflege gebracht, ebenso die Zuschüsse für Umbaumaßnahmen und Pflegehilfsmittel erweitert und die Zahl der zusätzliche Betreuungskräfte in stationären Pflegeeinrichtungen erhöht.

Mit dem PSG II hin zu einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und einem neuen Begutachtungsverfahren

Die grundlegende Änderung, die mit dem Pflegestärkungsgesetz II, PSG II, ab dem 1. Januar 2017 kommen wird, ist die Anerkennung der Gleichrangigkeit von somatischer, kognitiver und psychischer Erkrankung als Grund für die Pflegebedürftigkeit. Mit einem neuen Begutachtungsverfahren wird es den GutachterInnen des Medizinischen Dienstes mithilfe neuer, differenzierterer Kriterien besser möglich, den pflegebedürftigen Menschen in seiner Ganzheit zu betrachten. Folgende Aspekte werden bei der Begutachtung herangezogen:

  • Mobilität: Wie kann ich mich bewegen, beispielsweise beim Treppensteigen, bei alltäglichen Verrichtungen?
  • Kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Wie gut funktioniert noch das Verstehen und Reden, wie klappt die zeitliche und örtliche Orientierung?
  • Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: Wie ist mein Verhalten und Handeln, habe ich einen unruhigen Schlaf, bin ich aggressiv oder ängstlich?
  • Selbstversorgung: Kann ich selbständig Essen, Trinken, mich anziehen und waschen?
  • Umgang mit krankheits-/ therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: Wie funktioniert das Medikamentenmanagement? Kann ich noch selbstständig eine Blutzuckermessung vornehmen?
  • Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte: Kann ich meinen Tagesablauf noch selbstständig planen und entsprechend gestalten?

Anhand einer Bepunktung dieser Kriterien erfolgt dann die Einstufung in die neuen fünf Pflegegrade. Beim neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff steht die „Was kann die pflegebedürftige Person noch selbständig?“ im Mittelpunkt, nicht wie lange braucht eine Dritte Person zur Unterstützung (Minutenpflege).  

Es geht um Selbständigkeit und Selbstbestimmung im Alltag

Dieser Ansatz fand bei den Anwesenden große Zustimmung. Es wurden vielfältige Erfahrungen geschildert. Die Erzählungen verwiesen auf viele Gründe und Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Gemeinsam war allen: Der Wille, nach wie vor so viel wie möglich selbständig im vertrauten häuslichen Umfeld bewältigen zu können.

Häufig wurde darauf hingewiesen, dass es die Mobilität ist, die ein Alltagsleben nicht mehr uneingeschränkt zulasse: Es sind die „kleinen“, häufig auch aufgrund baulicher Gegebenheiten entstehende Beeinträchtigungen wie aus der Badewanne kommen oder Treppen steigen, die stören. Die Förderung wohnraumverbessernder Maßnahmen wird daher sehr begrüßt. Beklagt wird die mangelnde Barrierefreiheit in Gebäuden und im öffentlichen Umfeld.

Eine große Barriere in der Gestaltung des Alltags sei vor allem der Mangel an Betreuung und Begleitung - oft noch verstärkt durch fehlende finanzielle Eigenmittel. Mit dem PSG II wurden die Unterstützungsangebote im Alltag ausgebaut. So können neben körperbezogenen Pflegemaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung auch Betreuungsmaßnahmen in Anspruch genommen werden. Es müssen auf der Länderebene hierzu Richtlinien erlassen werden.

Vielen war bekannt, dass bei einer Höhergruppierung der Pflegestufe der selbst zu tragende Eigenanteil auch in stationären Pflegeeinrichtungen steigt. Dieser liegt durchschnittlich bei 460 Euro bis 900 Euro monatlich. Deshalb verzichten etliche BewohnerInnen auf eine höhere Pflegestufe - damit aber auch auf ein Mehr an Pflegeleistungen. Für mich als Pflegepolitikerin ein unhaltbarer Zustand. Ab dem 1. Januar 2017 gilt hier eine Änderung: Es wird in Zukunft einen sogenannten einrichtungsbezogenen Eigenanteil - durchschnittlich 580 Euro - geben. Niemand muss nun auf eine Höhergruppierung des Pflegegrades aus finanziellen Gründen verzichten. Der einrichtungsbezogene Eigenanteil gilt für jeden Pflegegrad. Dieser neue Ansatz ist meiner Meinung nach eine solidarische Lösung.

Die SPD hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Zahlung von Tariflöhnen von den refinanzierenden Trägern nicht abgelehnt werden darf. Eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte steigert auch die Attraktivität des Pflegeberufes.

Eine qualifizierte Beratung - das A und O für in der Pflege Engagierte

Ich konnte wahrnehmen, dass es oft die Kombination verschiedener gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist, die im Alltag eine Belastung erzeugen, die Ämtergänge und ÄrztInnenbesuche erschweren. Und auch das Nichtwissen und die Unsicherheit, wo Hilfe zu bekommen ist, macht den Kampf und die Ohnmacht im Alltag aus. Hier liegt auch eine Erklärung, warum viele Leistungen von den Berechtigten nicht in Anspruch genommen werden.

„Die besten Leistungen nützen wenig, wenn die Menschen über ihre Rechte und Ansprüche nicht ausreichend informiert sind, diese nicht kennen oder sie nicht verstehen“. Kaum jemand wusste, dass die BürgerInnen bereits seit Jahren das Recht auf Beratung in Pflegestützpunkten und auf einen persönlichen Versorgungsplan haben.

Pflegestützpunkte gibt es in jedem Berliner Bezirk

In Berlin sind alle Pflegestützpunkte auf einer extra Webseite aufgeführt. Sie sind also leicht ausfindig zu machen. Diese Pflegestützpunkte werden von Berliner Kranken- und Pflegekassen, sowie dem Land Berlin getragen. Ich empfehle allen: Machen Sie einen Termin aus zur persönlichen Beratung und zur Vorsorgeplanung aus. Warten Sie damit nicht, bis eine Pflegebedürftigkeit gegeben ist. Viele kannten die Pflegestützpunkte auch gar nicht.

PSG III - Bessere Kommunikation, bessere Kooperation
Dem Problem, dass viele Pflegebedürftige die für sie und ihre pflegenden Angehörigen existierenden Leistungen nicht ausschöpfen, widmet sich das noch in diesem Jahr zu beschließende PSG III nochmals intensiv. Ausgebaut werden soll die Beratung in der Pflege - für Pflegebedürftige, für pflegende Angehörige. Bei den Pflegekassen soll es persönliche Beratungspersonen geben. Die verschiedenen Dienste vor Ort sollen besser miteinander kooperieren. So kann Wissen transferiert und die fachliche Kommunikation unter den Diensten verbessert werden.

Auf der Grundlage des PSG III sollen in den kommenden fünf Jahren bis zu 60 „Modellkommunen Pflege“ entstehen. Es gilt insbesondere die Pflegestützpunkte auszubauen, die eine wertneutrale und trägerunabhängige Beratung leisten. Wir wollen auch die Qualität der Pflegeberatung weiterentwickeln und bundeseinheitlich gestalten.

Der Pflegeberuf muss attraktiver werden

Wir brauchen mehr Pflegefachkräfte. Um den Beruf attraktiver zu machen, werden wir eine Reform der Pflegeausbildung vornehmen. Ziel ist eine zukunftsfähige Pflegeausbildung zur Steigerung der Qualität der Pflege und der Erhöhung der Attraktivität des Pflegeberufs. Das beabsichtigte Gesetz beinhaltet

  1. eine neue generalistische berufliche Pflegeausbildung mit einem einheitlichen Berufsabschluss zur Pflegefachfrau bzw. zum Pflegefachmann,
  2. eine einheitliche Finanzierung mit Schulgeldfreiheit und Ausbildungsvergütung, und
  3. die erstmalige Einführung eines Pflegestudiums als Ergänzung zur beruflichen Pflegeausbildung.

Information auch auf meinen Veranstaltungen

Bereits im vergangenen Jahr habe ich zum Thema Pflegeberufereform eine Fraktion vor Ort - Veranstaltung organisiert. Eine weitere Veranstaltung zum Thema findet am 6. Juni statt.

Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Pflege

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der neuen Pflegeausbildung Fachkräften den Einstieg in die Pflege erleichtern - und sie auch länger als bisher in ihrem Beruf behalten werden. Derzeit beenden viele ihre Tätigkeit bereits nach 7 bis 8 Jahren, was ich sehr bedauere. Der Pflegeberuf an sich ist sehr sinnstiftend, es sind die Rahmenbedingungen, mit denen die meisten unzufrieden sind. Dazu gehören auch die vielen Teilzeitarbeitsverträge, die nur in den wenigsten Fällen von den Beschäftigten so gewollt sind, dazu gehört häufig auch eine nicht ausreichende Bezahlung. An der Verbesserung dieser Rahmenbedingungen arbeiten wir ParlamentarierInnen. Das wurde von den Gesprächsteilnehmern sehr begrüßt.

Individuelle Pflege - die Realisierung dieses Wunsches ist Grundlage der Pflegestärkungsgesetze I, II, III

Ich habe mich sehr über das intensive Gespräch mit vielen Nachfragen gefreut. Deutlich wurde erneut: Die Lebenssituation einer jeden pflegebedürftigen Person ist individuell. Jeder pflegebedürftige Mensch möchte auch so behandelt werden: individuell.

Dafür müssen wir in Politik und Gesellschaft noch vieles leisten - Pflege gehört in die Mitte der Gesellschaft: denn da ist der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen, die auch im Alter und bei Pflegebedürftigkeit zählen.