Normalerweise wird am Volkstrauertag der Toten der Kriege und der Opfer der Nazi-Gewaltherrschaft des letzten Jahrhunderts gedacht. Die Terroranschläge zwei Tage zuvor in Paris mit über 130 Toten und Schwerverletzten sind bei der Zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag am 15. November 2015 im Deutschen Bundestag zum zentralen Inhalt geworden. Es nahmen die RepräsentantInnen der fünf Verfassungsorgane und viele Gäste aus der Zivilgesellschaft und der Bundeswehr teil. Markus Meckel, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., eröffnete mit der Begrüßungsansprache die Veranstaltung. Die Gedenkrede hielt Bundespräsident Joachim Gauck. Er sprach auch das Totengedenken.
Die musikalische Gestaltung der Gedenkstunde oblag dem Leipziger Universitätschor und dem Bläseroktett des Musikkorps der Bundeswehr.
Möge uns die Gestaltung einer friedlichen Zukunft immer besser gelingen
Angesichts von aktuellem Unfrieden, Krieg und Terror gibt es viele Gründe zur Trauer betonte Markus Meckel, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Das diesjährige Gedenken gilt nicht nur den Millionen Toten des Ersten und Zweiten Weltkriegs sondern aller Kriege. "Krieg und Gewalt sind grauenhafte Gegenwart" erklärte Meckel.
Er rief als Ausdruck des Mitgefühls und der Solidarität zu einer Gedenkminute für die Verstorbenen und Verletzten des Attentats in Paris auf. Der Terror sei nicht nur Angriffe auf das französische Volk, sondern auch auf unsere gemeinsamen europäischen Werte, auf unser Leben in Freiheit in einer von Toleranz geprägten offenen Gesellschaft.
Die Anerkennung der Schuld Deutschlands für millionenfachen Tod, das Bewusstsein der Verantwortung bestimme heute über alle Parteigrenzen hinweg die deutsche Politik. Heute - 70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges - sei es auch möglich, der verschiedenen Opfer dieses Krieges zu erinnern, ohne sie gegeneinander aufzuwiegen oder gar aufzurechnen. Er erinnerte an die in unserem Erinnerungsdiskurs allzu oft vergessenen mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in Deutschland den Tod fanden. Er erinnerte daran, dass die Wende es ermöglicht habe, dass der Volksbund auch im Osten Europas mit seiner Arbeit beginnen, die gefallenen deutschen Soldaten und andere Kriegsopfer bergen und auf Sammelfriedhöfen würdig bestatten konnte. Dieses setzte - wie im Westen Europas - aber eine intensive Versöhnungsarbeit voraus, denn die deutschen Soldaten waren ja nicht als Freunde in diese Länder gekommen.
Eine zunehmend wichtige Aufgabe des Volksbundes bestehe darin, den nachfolgenden Generationen diese Kriegsgräberstätten nahezubringen, um sich so mit unserer schwierigen Geschichte auseinanderzusetzen. Diese betrifft die jungen Menschen auch selbst. Unter den etwa 20 000 Jugendlichen, die durch die Jugendarbeit des Volksbundes erreicht werden, sind zunehmend solche, die als MigrantInnen selbst Krieg und Gewalt erleiden mussten. Menschlichkeit und Frieden sind und bleiben Herausforderungen für unser konkretes Handeln. Markus Meckel schließt mit dem Wunsch: „Möge uns diese Verknüpfung von Aufarbeitung von Vergangenheit, Bewältigung der Gegenwart und der Gestaltung einer friedlichen Zukunft immer besser gelingen!“.
Lesung zum Volkstrauertag 2015
Fünf SchülerInnen der Gesamtschule Berger Feld aus Gelsenkirchen mit griechischen, türkischen, polnischen, irakischen und aserbaidschanischen Wurzeln, die häufig schon mehrere Generationen alt sind, berichteten bewegend über die emotionalen Erfahrungen, die sie im Rahmen der pädagogischen Friedensarbeit gemacht haben. Sie erzählten, wie diese Erfahrungen sie selbst prägen. Im Rahmen des Friedensprojekt Ypern und Tarabya beschäftigen sich die SchülerInnen der Oberstufe im Projektkurs Geschichte mit Einzelschicksalen gefallener Soldaten des Ersten Weltkriegs, die auf den Soldatenfriedhöfen Langemarck (Ypern, Belgien) und Tarabya (Istanbul) begraben sind. Bei einigen der hier gefallenen deutschen Soldaten gelang den SchülerInnen eine erfolgreiche Suche nach Hinterbliebenen - und das nach 100 Jahren. Berührend, dass einzelne SchülerInnen auch an das Schicksal eigener getöteter Anverwandter erinnerten, die Opfer jüngster Bürgerkriege geworden sind.
Die SchülerInnen wollen ihren Beitrag zum Friedensprozess in Europa leisten. „Wir haben auch verstanden, dass man die Menschlichkeit im Gedenken an die Toten aller Kriege nicht vergessen darf. Wir wollen den Toten ihre Würde zurückgeben. Wir wollen damit unsere Menschlichkeit beweisen - im handelnden Eintreten für den Frieden im Alltag und in der friedlichen Konfliktlösung von Staaten. … Wir hoffen inständig, dass es keinen weiteren Krieg mehr geben wird“.
"Krieg verwandelt Lebendige in Tote und hinterlässt in unzähligen Überlebenden tote Seelen"
„Wir beugen unser Haupt vor den Toten, niemals aber beugen wir uns dem Terror" betonte Bundespräsident Joachim Gauck nach den Terroranschlägen von Paris in seiner Rede. Die Opfer der Attentate seien Opfer hinterhältig agierender Mordbanden. "Es sind Terroristen, die im Namen eines islamistischen Fundamentalismus zum Kampf gegen die Demokratien, gegen universelle Werte und auch gegen Muslime aufrufen, die ihrer barbarischen Ideologie nicht folgen." Der Anschlag habe Frankreich gegolten, aber auch der offenen Gesellschaft, sagte der Bundespräsident während der Zentralen Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Die Täter müssten wissen: "Die Gemeinschaft der Demokraten ist stärker als die Internationale des Hasses. Wir beugen unser Haupt vor den Toten, niemals aber beugen wir uns dem Terror."
Im Gedenken an die vielen Kriegstoten und Opfer der Nazi-Gewaltherrschaft beklagt Gauck: "Krieg zerstört umfassend. Er zerstört nicht nur die Städte, die Wege und die Häfen. Krieg verwandelt Lebendige in Tote und hinterlässt in unzähligen Überlebenden tote Seelen." Wer Gewalt ausübe, der wandle sich in seinem Wesen. "Er wird ein anderer."
Es war still im Plenum des Deutschen Bundestages, als Joachim Gauck vom Redepult zurück zu seinem Platz ging.
Wem gedenken wir am Volkstrauertag?
Der Volkstrauertag ist seit den 1920er Jahren ein staatlicher Gedenktag. Ursprünglich wurden der getöteten deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg gedacht. Heutzutage wird an die Kriegstoten von zwei Weltkriegen und an die Opfer von Gewaltherrschaft erinnert.